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Todeserklärung

Todeserklärung

Titel: Todeserklärung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Erfmeyer
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manchmal holprig und manchmal weich und bequem eine Ebene finden ließ, auf der sie sich aufhalten konnten, ohne dass dort irgendein Zauber zu finden gewesen wäre, der ihre Seelen wärmte oder ihre Herzen berührte. Wie sehr war das Kind auch die Verwirklichung des Wunsches gewesen, hier eine Lücke zu schließen, die starr zwischen ihnen blieb.
    »Das Kind rettet!«, hatte er einmal gesagt und fühlte sich unversehens an die alte Frau erinnert, die in grauer Kutte über den Dortmunder Westenhellweg lief und ein Schild mit der Aufschrift Jesus rettet trug. Das Kind hatte nicht gerettet! Malin schaute ihn friedlich mit großen Augen an. Er streichelte seiner Tochter über den Kopf und berührte Lisa sanft an der Schulter.
    »Wir haben doch alles«, sagte er schließlich und wollte einiges von dem aufzählen, was sie in kurzer Zeit erreicht hatten. Ein Kind, ein schönes Haus im Dortmunder Süden, keine finanziellen Sorgen. Nicht, dass das Materielle alles wäre.
    »Ja, alles«, antwortete sie und küsste Malin auf die Stirn. Der Tag draußen war schön geworden. Der Regen hatte sich verflüchtigt. Ein kalter Wintermorgen. Sonne, die das weite Wohnzimmer erfüllte. Möbel und Accessoires, warm und wohnlich, Symbole, die für Leichtigkeit standen. Lisas schwere Worte wollten jetzt nicht wiederkehren. Trennungen bespricht man nicht tags-über. Gespräche, die beschließen, fügen sich nicht in den laufenden Tag.
    »Lass uns noch mal nachdenken!«, meinte er, und sie nickte.
    Knobel verließ das Haus zu einem langen Spaziergang durch die Bittermark, trank schließlich in dem biederen Waldhotel Hülsenhain ein Bier und sah den westlichen Teil Dortmunds weit hinten im Tal, Kraftwerke im Hintergrund und einen misslungenen Tag hinter sich. Spitze Pfeile seines Erzfeindes Löffke, ein neuer Mandant, den er nicht und der ihn nicht mochte und das Erdbeben mit Lisa, das bald die endgültige Trennung als Nachbeben nach sich ziehen würde. So friedlich, wie sie einander heute Mittag gegenüberstanden, waren sie meistens. In den schlimmsten Momenten waren sie friedlich. Sie stritten nicht, sie schlugen keine Türen, fluchten nicht, verwünschten nicht, liebten nicht. Sie wünschten sich, sich zu lieben. Sie verstanden sich gut. Doch das Verstehen klebte zwischen ihnen wie eine zähe Paste, die keinen entließ und jeden an seinem Glück hinderte.

5
    Marie. Der unsympathische Gregor Pakulla hatte zielsicher richtig vermutet. Natürlich arbeitete eine Germanistikstudentin nicht einfach so für eine Anwaltskanzlei. Wo es keine fachlichen Berührungspunkte gab, konnte es nur private geben. Knobel hatte Marie über einen Fall zufällig kennengelernt, hatte bald Vertrauen zu ihr gefasst, dann in ihrem unkomplizierten, zugleich forschenden und fordernden Wesen eine reale und in ihren Strukturen klare und helle, deswegen so weite und doch so geborgene Welt jenseits der Kanzlei gefunden. Eine Welt, jenseits seiner Ehe und allen Erwartungen, denen er ausgesetzt war oder denen er sich nur ausgesetzt fühlte. Marie, die in ihren Zielen so unangepasste Studentin im sechsten Semester, die in der Brunnenstraße im Dortmunder Norden eine kleine Wohnung hatte, die in jeder Hinsicht zu seinem großzügigen Haus in der Dahmsfeldstraße einen Gegensatz bildete. Die kleine Wohnung in der sanierungsbedürftigen Mietskaserne, die einfache Einrichtung, die vielen schlichten Regale, in denen sich Bücher und allerlei Kleinkram häufte. Die einfache Küche mit der Korblampe an der Decke. Kerzen, die in mit Wachs überströmten Flaschen steckten. Alte Töpfe, in denen schnell Nudeln gekocht und eine Bolognesesoße zubereitet wurde und einfacher Rotwein aus dem nahen Supermarkt. Was Knobel anfänglich als studentisches Idyll empfand, war ihm lieb geworden, und je vertrauter ihm Maries kleine Wohnung in der Brunnenstraße wurde, desto mehr verkam sein Haus in der Dahmsfeldstraße, obwohl mit schönen Möbeln ausgestattet, zu einer Kulisse. Die Möbel dort standen für eine Atmosphäre, die ihre Besitzer nicht mit Leben erfüllen konnten. Maries Wohnung hingegen spiegelte ihr Wesen wider, ihre Anspruchslosigkeit in materiellen Dingen, manchmal ihre Detailverliebtheit, ihre Unordnung, die ihr Wirken in den letzten Tagen in der Wohnung nachzeichnete. Stephan Knobel war, bevor die Liebe zu Marie erwachte, in ihren schützenden Armen eingeschlafen, war staunend durch die Welt ihrer Gedanken und Träume geirrt, hatte sich ihren Ideenexkursionen angeschlossen, sich

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