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Todeserklärung

Todeserklärung

Titel: Todeserklärung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Erfmeyer
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geschafft, die Kamera als Betriebkosten über die Kanzlei abzusetzen. Ansonsten arbeitete Marie neben ihrem Studium noch als Aushilfskraft im nahe gelegenen La Dolce Vita, doch die ungleich besser bezahlten Forschungsaufträge für die Kanzlei Dr. Hübenthal & Knobel gestatteten ihr, ihre mühselige Tätigkeit in der Kneipe zu reduzieren und die frei werdende Zeit dem nahenden Examen zu widmen. Dies erzeugte bei Knobel die wehmütige Ahnung, dass ihre schöne gemeinsame Zeit mit Maries Eintritt in eine eigene Berufswelt, vielleicht sogar fernab von Dortmund, ihr Ende finden werde. Er tröstete sich damit, dass er zwischenzeitlich private Entscheidungen treffen würde und hoffte zugleich, dass bis dahin noch eine ganze Weile vergehen werde.
     
    Knobel schilderte Marie den Fall Pakulla, der bis jetzt noch gar kein Fall war. Es gab nur wenige und knappe Fakten: Eine erblindete Esther van Beek, die die letzten Jahre im Wohnstift Augustinum im Dortmunder Süden wohnte und einige Wochen vor ihrem 85. Geburtstag verstorben war, zwei gesetzliche Alleinerben, Gregor Pakulla und sein Bruder Sebastian, der vor knapp zwei Jahren innerhalb Dortmunds umgezogen war, seine neue Adresse aber nicht seinem Bruder, dem Mandanten, mitgeteilt hatte. Dies war erklärlich, weil die Brüder nach Angaben seines Mandanten schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander hatten. Der in Dortmund wohnende Sebastian war offensichtlich verschwunden und wurde von seinem Bruder zumindest für die Abwicklung des Nachlasses der verstorbenen Esther van Beek dringend benötigt. Der Mandant Gregor Pakulla war geldgierig, zahlte aber bereitwillig Vorschüsse und hatte signalisiert, dass er sich den Erfolg in der Sache einiges kosten lassen werde.
    »Also setzen wir uns für ihn ein – auch wenn ich ihn nicht sonderlich mag«, beendete Knobel seinen Bericht.
    »Und ich soll den Bruder ausfindig machen«, folgerte Marie.
    »Gibts ein aktuelles Foto oder sonstige Informationen von ihm?«
    Knobel verneinte.
    »Da die Brüder seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander hatten, sind auch keine Fotos mehr ausgetauscht worden. Das letzte Foto, das mein Mandant von seinem Bruder hat, ist das Abschlussfoto seiner Abiturklasse.«
    Er reichte Marie das Schwarz-Weiß-Bild.
    »Letzte Reihe, ganz links«, sagte er.
    Marie sah einen im Vergleich zu seinen meisten Mitschülern hoch aufgeschossenen Schüler von hagerer Statur, dünnem Oberlippenbärtchen und schon in jungen Jahren hoher Stirn.
    »Ein großer Kerl«, fand sie.
    »Gregor Pakulla ist genauso hager, aber auffallend kleiner.«
    »Ist es möglich, dass zwei Brüder so unterschiedlich ausfallen?«, fragte Marie und betrachtete weiter das Bild.
    Knobel zuckte unschlüssig mit den Schultern.
    »Ungewöhnlich ist es schon«, pflichtete er bei und ließ vor seinem geistigen Auge ihm bekannte Geschwisterpaare Revue passieren und verglich sie. In der Statur waren die meisten einander ähnlich.
    Marie legte das Foto in eines ihrer Wandregale. Als sie sich umwandte, zog er sie auf seinen Schoß. Knobel sammelte die Zungenküsse mit ihr. Er schmeckte Marie, schmeckte ihre gemeinsame Zeit und streichelte sanft über ihre schmalen schwarzen Augenbrauen.

6
    Wie jeden Dienstagabend, nachdem er nach Hause gefahren war, setzte er sich zunächst in die Küche und trank noch ein Glas Rotwein, bevor er sich neben Lisa ins Bett legte, die zu dieser Uhrzeit gewöhnlich schon schlief und in der Nacht aufstehen würde, wenn Malin nach ihrer Mutter verlangte. Das Glas Rotwein in der Küche in der Dahmsfeldstraße war ebenso ein Ritual wie der Tee in Maries Küche in der Brunnenstraße. War jener das Einstimmen auf Maries Welt, so war der Rotwein die Rückkehr in seine andere Welt. Wenn er in der Dahmsfeldstraße in der Küche saß, den vergangenen Tag in Gedanken durchstreifte und schließlich bei Marie hängen blieb, bemerkte er, dass diese wenigen Stunden seine Erinnerung beherrschten und alle anderen Ereignisse des Tages zur Bedeutungslosigkeit degradierten. Ihm wurde bewusst, was Lisa an ihm hartnäckig kritisierte, ohne dass sie die wahre Dimension ihrer Worte erahnte: Seine Verantwortungslosigkeit. Während er mit Marie seine Zeit geteilt – nicht die Zeit verbracht – hatte, funktionierte Lisa für ihr gemeinsames Leben, hatte sich um Malin gekümmert, im Haushalt das Notwendige erledigt, also jenen Alltag bewältigt, dem er erklärtermaßen entfliehen wollte. Das Glas Rotwein und seine Rückkehr waren zunächst ein Schwelgen

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