Todeserklärung
führen lassen und schließlich den Mut gefunden, eigene Ideen zu entwickeln. Marie hatte in ihn hineingehorcht, so wie er es bei ihr tat, voller Neugier und dennoch ohne jede Anpassung. Sie gingen gelassen miteinander um, niemals lässig. All dies war geschehen, bevor sie das erste Mal miteinander schliefen. Knobel wusste, dass ihr Zusammensein gerade deswegen so leicht war, weil sie einander in ihren Welten ließen und in ihrer Gemeinsamkeit eine neue Welt gefunden hatten. Was in der Beziehung zu Lisa anfänglich als so wichtig, für ihre Zukunft so fundamental erschien, nämlich in einem gemeinsamen Beruf auch eine gemeinsame Lebensbasis zu haben, erschien ihm seit seinem Zusammentreffen mit Marie kindlich naiv und falsch. Sein Verhältnis zu Marie war unbelastet von Zukunftsplänen. Und da sie es verstanden, den Augenblick zu leben, war die Zukunft unbedeutend. Knobel hatte, den Erziehungszielen seiner Eltern Respekt zollend, darüber nachgedacht, ob solch ein zukunftsfreies Leben und Lieben nicht verantwortungslos sei. Doch er konnte seine Antwort nur aus seiner gegenläufigen Erfahrung geben, dass sein auf gemeinsame Zukunft und das Erreichen gemeinsamer Ziele ausgerichtetes Leben mit Lisa vor allem der Zukunft entbehrte. Das Zusammensein mit Marie bildete einen schützenden Mikrokosmos, in dem sie ausschließlich mit sich beschäftigt und füreinander da waren; und Maries kleine Wohnung war der geeignetste Ort überhaupt, diese Intimität zu spiegeln, in der für ihn Lisa, die Kanzlei, und für Marie die Universität und alles, was sie sonst im Leben beschäftigte, gleichermaßen fern und unbedeutend waren.
Knobel entdeckte, dass Liebschaften ihren eigenen Regeln folgten, und wenn sich beide darüber einig waren, aus ihrer Heimlichkeit ihre entscheidende Kraft zogen: Beide ließen ihr Alltagsleben außen vor, sie lebten jenseits ihrer sonstigen sozialen Bindungen. Und was man vielleicht mit gewissem Recht als Selbstbetrug bezeichnen konnte, war in Wahrheit ein befreiender Fall in ein weiches Refugium, in dem Träume wachsen und so gewaltig Wirklichkeit werden konnten.
So jedenfalls empfand Stephan Knobel und wusste sich darin mit Marie Schwarz einig. Einem Ritual folgend traf er sich stets dienstags mit ihr in ihrer Wohnung in der Brunnenstraße. Lisa belog er an diesen Tagen mit vermeintlichen abendlichen Mandantengesprächen oder einem Arbeitskreis Gesellschaftsrecht, für den ein Studienfreund notfalls ein Alibi liefern musste. Tatsache aber war, dass er sein Lügenkonstrukt nicht besonders sorgfältig plante und sicherte. Auch das Lügen war in seiner Ehe mit Lisa leicht. Und natürlich wusste er, dass die Wortwechsel mit Löffke sich gegenüber Lisa in den Vordergrund drängen konnten, weil sie ihn weitaus mehr trafen. Mit Löffke musste er sich auseinandersetzen; mit Lisa hatte er keine Auseinandersetzung. Mit Lisa verband ihn eine Trennung.
Marie also war seine Liebe geworden, bevor er sie das erste Mal umarmte. Stephan Knobel war durch Marie im Leben angekommen.
Er hatte Maries Namen eher aus Verlegenheit gegenüber Gregor Pakulla ins Spiel gebracht, als sein Mandant den Namen des kanzleieigenen Privatdetektivs wissen wollte. Einen solchen gab es in der Kanzlei Dr. Hübenthal & Knobel nicht und würde es auch nie geben. Wie einem Instinkt folgend, hatte sich Knobel angewöhnt, die Wünsche seiner Mandanten zu befriedigen. Der harte Wettbewerb unter den Kanzleien verbat, Mandantenwünsche vorschnell negativ zu bescheiden. Was eben möglich erschien, sollte angeboten werden. Eine der wichtigsten Maximen von Dr. Hübenthal & Knobel .
Als Stephan Knobel mit seinem Auto in die Brunnenstraße fuhr, war die Einwohnermeldeamtsanfrage von den Bürgerdiensten der Stadt Dortmund bereits beantwortet worden. Sebastian Pakulla war vor knapp zwei Jahren aus der Oesterholzstraße 16 in die Adlerstraße 71 in der Dortmunder Weststadt verzogen.
Diese Information nahm Knobel zunächst zur Akte.
Gregor Pakulla hatte unterdessen unaufgefordert weitere 1.000 Euro Vorschuss überwiesen. Was die meisten Mandanten nicht verstehen wollten, schien für Gregor Pakulla selbstverständlich: Mit der Zahlung stieg Knobels Motivation wie die eines jeden Anwalts ganz erheblich.
Als Knobel an jenem Dienstagabend kurz nach 19 Uhr in die Brunnenstraße fuhr, war es längst dunkel. Er parkte schräg gegenüber der Wirtschaft La Dolce Vita und ging die restlichen Meter zu Fuß.
Knobels wöchentliche Treffen mit Marie
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