Todeserklärung
begannen meist mit einem gemeinsamen Tee in der Küche. Die halbe oder dreiviertel Stunde, die sie hier verbrachten, erzählend oder still einander streichelnd, war Knobels Eintritt in ihre Welt, ein Ritual vertrauten Zusammenseins, in der sich die Hektik seines Alltags verflüchtigte und er sich Marie öffnete. Die gemeinsame Zeit mit ihr war erst Ausflug, dann Fluchtpunkt und mittlerweile Pulsschlag seines Lebens geworden, in dem er sich seiner Sinne bewusst wurde und der Begriff der Sinnlichkeit eine für ihn neue und immer weitere Dimension erhielt.
Knobel hatte heimlich begonnen, über seine Treffen mit Marie ein Tagebuch zu führen, das er in einem verschließbaren Seitenfach seines Aktenkoffers verstaute und zwischendurch, meistens am Mittwochmorgen nach der Postbesprechung, fortschrieb. Ihm war, als sei das Heimliche und Seltene ihres Zusammenseins, auch die Begrenzung auf kleine Lebensausschnitte, die Aussparung des Alltags, wesentlicher Grund dafür, dieses leichte Leben zu leben und sich ihm mit der Intensität und Lust hinzugeben, die auf Dauer zu erhalten fast irreal erschien. Knobels Tagebuch war ein Album all dieser in ihrer bislang unbekannt gewesenen Tiefe und leuchtenden Farbenpracht erlebten Augenblicke, und ganz im Unterschied zu seiner dem beruflichen Alltag geschuldeten Sachlichkeit fielen ihm für sein Tagebuch poetische Wendungen ein, mit denen er sein Erleben reichlich ausmalte, um es für die Ewigkeit zu konservieren.
Lisa kam in diesem Tagebuch naturgemäß nicht vor, doch sie war ebenso unverzichtbarer Bestandteil seiner Welt, nur bildete sie deren anderes Ende ab, den nüchternen alltäglichen Teil, den geschäftsmäßig funktionierenden, der die sozialen Erwartungen erfüllte, denen sie beide ausgesetzt waren.
Das war ihr gemeinsames Dilemma.
Gerade, weil Knobel Marie genießen durfte, gab es überhaupt keinen Grund, sich von Lisa zu trennen. Knobel verband zwei einander gegenüberstehende Welten, deren äußere Attribute schon nicht zusammenpassen wollten und deren gelegentliches Zusammentreffen nicht ohne Komik war. Da war sein poetisches Tagebuch in dem Aktenlederkoffer, der ansonsten mehrbändige Akten, dicke rote Gesetzestexte und nobles Schreibgerät, manchmal auch ein Diktiergerät barg. Da war sein nobler Mercedes, der nicht in die langen Reihen verbrauchter Kleinwagen passen wollte, die in der Gegend um die Brunnenstraße parkten. Oder sein eleganter Missonianzug, die Omega-Uhr und die schicken italienischen Schuhe, in denen er bedächtig zu Maries Wohnung durch das dunkle Treppenhaus emporstieg und die ihm ein gleichermaßen nobles wie amtliches Aussehen verliehen. Der gemeinsame Tee also ließ ihn heimlich von seinem Alltag Abstand nehmen, bevor sie sich ihrer Kleider entledigten und sich ihre Welten zusammenfügten.
Maries gelegentliche Detektivarbeiten für die Kanzlei Dr. Hübenthal & Knobel waren in mehrfacher Hinsicht nützlich. Erstens hatte Knobel bereits in einem früheren Fall Maries Forschergeist und ihre Kombinationsgabe zu schätzen gelernt, die sie gemeinsam auf die Lösung des Falles gebracht hatten, dem Knobel letztlich seinen Karrieresprung zu verdanken hatte. Zweitens gestattete ihre offizielle Beauftragung durch Knobel, seinem Kontakt zu ihr eine äußere Legitimation zu verschaffen, mit der gelegentliche Anrufe Maries in der Kanzlei erklärt werden konnten, insbesondere aber eine vorbeugende Aufklärung geleistet wurde, wenn sie zufällig von jemandem aus der Kanzlei in der Öffentlichkeit gesehen wurden. Knobel hatte deshalb seine Zusammenarbeit mit Marie in einer Sozietätsbesprechung erwähnt und kurz begründet, und die Sozien hatten hierzu nichts zu sagen, erst recht nichts einzuwenden, bis auf Hubert Löffke, der mit seinem vielsagendem breiten Grinsen signalisierte, dass er offensichtlich ein sexuelles Verhältnis als wahren Hintergrund der Zusammenarbeit von Knobel und Marie witterte, sich jedoch hütete, seiner bekannt schmutzigen Fantasie in dieser Runde freien Lauf zu lassen und den Sozietätsbesprechungen jene Würde zu nehmen, die Dr. Hübenthal mit Gesten und Worten stets aufs Neue einforderte. Drittens schließlich konnte Marie mit den gelegentlichen Aufträgen für die Kanzlei manchen Euro dazuverdienen. Knobel hatte ihr Computer, Drucker und Bildschirm verschaffen können, als die Kanzlei ihre gesamte Computeranlage abgeschrieben und durch eine neue ersetzt hatte. Zusätzlich hatte er Marie eine Digitalkamera gekauft und es
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