Todesflirt
konnte ich gut verstehen. Aber hätte meine Mutter den Kontakt zu mir abgebrochen, nur weil ich ihre Gärtnerei nicht übernehmen wollte? Niemals! Definitiv!
»Über solche Sachen kann man doch reden!«
David schüttelte energisch den Kopf.
»Nicht mit meinen Eltern. Sie sind ein bisschen … konservativ.«
»Und Geschwister hast du nicht, die den Betrieb übernehmen könnten, oder?!«
»Richtig«, er rutschte näher an mich heran und sah mir tief in die Augen. »Aber weißt du, was: Das Thema langweilt mich. Lass uns über was anderes sprechen.« Und dann küsste er mich gefühlte vier Tage lang.
Es war bereits kurz vor drei als wir vom Tanzen im
Ampère aufbrachen. Wir verloren kein Wort darüber, dass mich David begleiten würde. Es war einfach selbstverständlich. Leise schlichen wir durchs nächtliche Haus in mein Zimmer. Socke schnüffelte einmal neugierig an meinem neuen Begleiter, er kraulte sie liebevoll hinter den Schlappohren und schon ließ sie ihn schwanzwedelnd durch. Für einen scharfen Wachhund war sie eindeutig zu harmoniesüchtig.
Nachdem wir uns geliebt hatten, war ich so aufgewühlt, dass ich noch lange nicht einschlafen konnte. David tat schon ruhige Atemzüge und ich betrachtete seinen nackten Körper, der vom Mondlicht hinterm Fenster unwirklich blau schimmerte. Er hatte sich nicht zugedeckt, dafür war es viel zu warm. Ich musste mich zurückhalten, ihn nicht zu streicheln, seine Schultern, seinen Rücken, den er mir zugewendet hatte. Unterhalb der Schulterblätter, quer über den Rücken, ebenso am Oberarm und an der rechten Wade verliefen dicke Narben. Sie waren recht tief gefurcht, leicht wulstig und schimmerten weißlich. Woher die wohl kamen? Eine Brandverletzung? Ein Autounfall? Ich musste ihn unbedingt fragen. Meine Freundin Toni behauptete ja immer, Jungs fühlten sich wie Helden, wenn sie über die Herkunft ihrer Narben erzählen konnten.
Es war noch nicht mal halb acht, als mich ein lautes »Wer ist das?« weckte. Auch David schreckte hoch und sah Juli irritiert an, die in ihrem rosa-grün geblümten Lieblingsnachthemd vor uns stand. Er grapschte nach der Bettdecke und bedeckte seine Blöße. Juli setzte sich unbekümmert auf die Bettkante. Sie gab mir wie üblich einen Kuss und wollte sich an mich kuscheln. Ich schob sie sanft beiseite.
»David, das ist Juli. Juli, das ist David. Du lernst ihn nachher beim Frühstück kennen, okay? Und jetzt lass uns noch ein kleines bisschen schlafen.« Juli grinste breit.
»Hallo, David«, sagte sie.
»Hallo«, gab er mit rauer Stimme zurück und versuchte, sich hinter meinem Rücken klein zu machen. Juli lachte ihn weiter an.
»Juli«, sagte ich ein Spur strenger. »Geh in dein Zimmer. Spiel noch ein bisschen mit Barbie und Ken. Und nachher gehen wir zusammen laufen, okay?«
»Hallo David«, sagte sie nochmals. David winkte knapp mit der Hand.
»Juli!«, ich wurde lauter. »Geh in dein Zimmer.«
»Hallo David«, sagte sie und winkte jetzt auch.
Meine Antwort und ihre Reaktion darauf wiederholten sich noch ein paar Mal. Schließlich fragte ich sie, ob sie sich erinnere, was ich ihr versprochen habe, nachher zu tun?
»Wir gehen laufen«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Genau! Aber bis dahin …« Ich machte eine scheuchende Bewegung. »Mama ruft dich außerdem«, behauptete ich. Das war immer mein letzter Trick. Juli nickte erfreut und ein wenig verlegen gleichermaßen und verließ endlich mein Zimmer.
»Deine Schwester?«, fragte David. Ich bejahte und kuschelte mich in seine Arme. »Genau! Aber jetzt lass uns noch ein bisschen schlafen. Bitte! Es ist Wochenende!« Ich spürte, wie sein Körper starr dalag, angespannt. Er drehte sich auf den Rücken und sah an die Decke. Ich musste ihm ja wohl jetzt nicht erklären, dass Juli das Downsyndrom hatte, das sah man schließlich. Fünf Minuten lang versuchte ich, wieder einzuschlafen. Es ging nicht. Davids Unruhe hatte sich auf mich übertragen. Außerdem nahmen die Geräusche rumorender Menschen im Erdgeschoss des Hauses deutlich zu. Meine Mutter war schon längst wach, um neun Uhr öffnete die Gärtnerei – auch am Samstag. Mein Vater werkelte auf der großen Freifläche herum und Juli war sowieso Frühaufsteherin. Annika und ich dagegen waren Murmeltiere, die immer hart kämpfen mussten, am Wochenende einmal ausschlafen zu dürfen. Am Sonntag war das auch okay, aber samstags wurde so herumgepoltert, dass wir spätestens um acht Uhr mehr oder minder freiwillig
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