Todesflirt
aufstanden.
Als ich um kurz nach acht aus dem Bad kam, war David tatsächlich wieder eingeschlafen. Ich küsste ihn wach und bat ihn aufzustehen. Gleich würde sich die gesamte Familie am großen Esstisch in unserer äußerst geräumigen Küche treffen und gemeinsam frühstücken, ehe meine Eltern im Verkaufsraum der Gärtnerei und zu ihren Angestellten verschwinden würden. Normalerweise halfen Annika und ich samstags mit, manchmal erledigten wir Dinge im Haushalt, gingen einkaufen oder kümmerten uns um Juli. Da Annika ja seit knapp einem Jahr in der Gärtnerei arbeitete, war meistens ich es, die sich um Haus und Schwester kümmerte.
Irgendwie war mir ein wenig mulmig, als ich David jetzt vor mir die Treppe herunterschob. Meine Eltern hatten sich mit Max immer gut verstanden und sie trafen sich sogar gelegentlich mit seinen Eltern im Biergarten oder sonst wo. Aber ich war immer offen zu meiner Familie und mir kam es gar nicht in den Sinn, David zu verstecken. Irgendwann hätten sie ja sowieso alles mitbekommen. Und dass David nur eine Episode war – das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Mein Vater hatte die Zeitung vorm Gesicht, meine Mutter hantierte an der Spülmaschine und Juli löffelte gedankenverloren ihre Cornflakes. Annika war noch im Badezimmer.
»Morgen«, sagte ich und David echote leise hinterher.
»Morgen«, grüßte mein Vater zurück, ohne etwas bemerkt zu haben. Nur meine Mutter drehte den Kopf zu uns und sagte dann: »Ach. Und wer ist das?« Manchmal hatte ich den Eindruck, Julis Direktheit hatte nichts mit der Trisomie 21 zu tun, sondern war ganz einfach ein Erbstück meiner Mutter.
»Das ist David«, sagte ich möglichst unbekümmert. Nun ließ auch mein Vater die Zeitung sinken. David ging auf meine Mutter zu und gab ihr die Hand, dann meinem Vater. Sein Gesicht war ziemlich rot und es sah nicht so aus, als fiele ihm eine lässige Floskel ein, mit der er sein Hiersein begründen könnte.
»Das ist unsere Juli«, wies mein Vater auf seine Jüngste hin. David nickte.
»Ja, ich habe sie schon kennengelernt.«
»Hallo David«, sagte Juli prompt und lächelte ihn an. »Ich will, dass David neben mir sitzt.« Dann aß sie ihre Cornflakes weiter, was für Außenstehende leider nicht der allerappetitlichste Anblick ist. Aber schließlich arbeitete David im Kindergarten und war Rumgematsche mit Essen mittlerweile gewohnt.
Er ließ sich also neben Juli auf seinen Stuhl sinken und nahm dankbar den Kaffeebecher, den ich ihm hinschob. Nun kam auch Annika und sie glotzte ihn unverhohlen neugierig an. Meine Eltern beobachteten uns – freundlich ausgedrückt – interessiert. Ich wusste, dass ich jetzt eine Erklärung abgeben musste.
»David und ich haben uns im Kindergarten kennengelernt«, sagte ich also und erzählte, dass wir uns ineinander verliebt hätten und ich Schluss mit Max gemacht hätte.
»Aha«, war die einzige Reaktion meines Vaters, ehe er wieder hinter seiner Zeitung verschwand. Meine Mutter dagegen befragte David ausgiebigst nach seiner Herkunft, Familienverhältnissen, Ausbildungsstand und Berufszielen. Brav, aber knapp gab er Auskunft, während er immer wieder zu Juli schielte, die die Milch aus ihrer Schüssel geschlürft und die durchweichten Cornflakes zu einem kleinen Turm zusammengeschoben hatte.
»Gehen wir jetzt laufen?«, schaltete sie sich alle paar Minuten ins Gespräch ein und auch meine gleichbleibende Antwort »nach dem Frühstück« hielt sie nicht davon ab, die Frage zu wiederholen.
»Läufst du ’ne Runde mit oder hast du schon was vor?«, fragte ich David nach dem Frühstück. »Schuhe könntest du dir von meinem Vater leihen. Und nachher könnten wir noch eine Runde im See schwimmen.« David willigte ein und die Sportschuhe passten tatsächlich. Seine khakifarbene Short war wie gemacht zum Laufen. Die Greenpeace-Demo gegen Gen-Essen, auf die ich hatte gehen wollen, würde ich ausfallen lassen. Vielleicht könnte ich zur nächsten mit David gemeinsam gehen.
Annika und ich joggten schon seit Jahren. Man musste nur aus der Haustür treten und schon stand man mitten im Feld. Am Horizont erkannte man die weiße Silhouette der Messestadt, die nicht so ganz ins noch recht bäuerliche Bild unseres Stadtteils passte. Aber man fand immer noch genügend unbefahrene Wege, auf denen einem höchstens ein paar Hunde samt Herrchen oder Radfahrer begegneten. Vor ungefähr eineinhalb Jahren hatte Juli plötzlich damit angefangen, dass sie unbedingt mit uns
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