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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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Kollegen übersehen hätten.
    Nach Knuts Schätzung wäre zwischen dem Zeitpunkt, da Felix Frau Meret Platen von der Mühle nach ›Holsten‹ gebracht hat, und der Zeitangabe Aljas, die Frau Chantal Platen-Alt auf dem Weg zum Bienenhaus sah – und da lebte Felix ja noch –, nicht genügend Zeit gewesen, dass Felix zu sich nach Hause gegangen wäre. Trotzdem ist Knut in Felix’ Haus gegangen, er war ja sein Freund, hat vom Keller bis zum Boden und im Schuppen jeden Winkel durchsucht. Da war nichts.
    Was hält Alja davon?
    Alja ist seltsam, unkonzentriert, fahrig, so habe ich sie noch nie erlebt. Sie beginnt einen Satz, hört in der Mitte auf, macht eine Pause, fährt ganz anders fort. Sie sieht uns mit grünen Augen an, meergrün, doch sie sieht irgendwohin.
    »Alja, was denkst du!«
    »Ich denke an Meret Platen. Sie hat kein einfaches Leben gehabt, von Kind an nicht. Ich denke nicht, dass sie sich aus Felix etwas gemacht hat. Doch etwa eine Stunde, bevor er stirbt, benimmt sie sich unlogisch, das ist das Seltsame. Ich war gerade dabei, die ›Honey Snaps‹ aus dem Backofen zu nehmen und aufzurollen – du musst genau und schnell arbeiten, sonst sind sie verpfuscht –, da schaute sie zum Fenster herein, wollte mit mir reden. Ich war konzentriert, habe vielleicht zu harsch gesagt, sie müsse sich einen Augenblick gedulden. Ich hätte es netter sagen können. Wie die ›Snaps‹ alle gerollt waren, war sie schon weg. Ich habe angenommen, sie sei einfach weitergerannt, was ja auch stimmte. Jetzt überlege ich mir, wie verstört sie war. Ihr Gesicht war anders, aufgelöst. Das überlege ich mir noch und noch. Sie ist vor etwas Schrecklichem davongelaufen. Wenn es denn die Hand war, die sie gefunden hat.«
    Ich höre, lausche auf Aljas Stimme, das melodiöse Auf und Ab. Es ist wichtig, was sie sagt, es ist beklemmend. Was sagt sie genau: Die beherrschte Meret Platen läuft zu Tode erschreckt in der Gegend herum. Doch da ist noch etwas anderes. Die Art, wie Alja sich erinnert, es liegt ihr eigenes Erschrecken darin. Andererseits sagt sie, dieses sei erst im Nachhinein gekommen – unlogisch. Zuerst war sie auf ihre Plätzchen konzentriert. Etwas in Aljas Stimme irritiert mich. Da ist schon wieder diese nervöse Art, sie steht auf, geht zum Fenster, als erwarte sie etwas.
    * * *
    Benno ist zurück, gesund und munter, kein Fleckfieber und keine Diarrhö. Wir treffen seit Ostern das erste Mal wieder zusammen und prompt streiten wir uns. Wie jedes Mal geht es um eine Nichtigkeit, oder eben gerade nicht. Benno belächelt unsere zwei Buchspflanzen. Da sollte ich doch darüberstehen. Stattdessen verteidige ich Pflanzen im Allgemeinen und verlege mich dabei auf die Eiben, da der Buchs sprachlich nicht das Gleiche bietet. Ich versuche zu erklären, dass Pflanzen wie auch die Sprache mit dem geografischen Raum und mit den Menschen, die ihn bewohnen, zusammenhängen. Wird hier eben Alemannisch geredet mit diesem weichen, webenden Singsang, und der Baum heißt Eibe, dann ergibt sich daraus eine helle Resonanz, die auf den Baum wirkt, als gäbest du ihm Wasser.
    Benno ist längst aufgebracht, spottet: »Schöne Gedanken, so poetisch. Kommt es von Alja oder von Dorothy? So etwas ist reine Spekulation, Esoterik. Frauen wie du fahren darauf so richtig ab. Es holt einen eben immer irgendwo ein, je intelligenter, desto anfälliger fürs Irrationale.«
    Wir streiten unter der Wohnungstür, anscheinend ist mir zum Streiten. »Ich muss weder Alja noch mich verteidigen. Alja schreibt Derartiges nicht in ihre Kolumnen, damit nicht Leute wie du es lesen, Leute, die selbstherrlich über Dinge urteilen, die sie nicht kennen. Ja, es stimmt, ich bin zu wenig bürgerlich konditioniert, es kommt alles von Dorothy. Von ihr habe ich schon in den Windeln mitbekommen, wie man ›anständig‹ diskutiert und eben auch denkt. ›Mach dir nie deinen eigenen Horizont zum Maß, er hängt immer nur auf deiner persönlichen Augenhöhe.‹« Für Benno ist es undenkbar, dass er sich mit etwas nicht auskennt, sich mit etwas nicht gründlich genug befasst hat. Jede andere Sicht der Dinge als die seine muss zwangsläufig falsch sein. Doch dazu hat man den Verstand oder eben nicht. Im Streit sage ich, Benno solle ja nicht wiederkommen, bevor er dies nicht begriffen hat.
    Ich höre ihm nach, wie er die Haustür unsanft hinter sich zuzieht.
    ›Quidquid agis/ prudenter agas/ et respice finem‹: ›Was immer du unternimmst, tue es überlegt und bedenke, wie es

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