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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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vollbracht sein soll‹ (wie alles herauskommt, das grässliche Ende) – ein richtig beklemmender Spruch, blockt jedes spontane Handeln ab. ›Quidquid agis – die Perspektive eines Lebens mit Benno jedenfalls habe ich wissentlich und willentlich hingeschmissen, weil mein Leben anders auszurichten war, das Ziel, das, wofür zu leben sich lohnt. Was wäre das Ziel, das ich unter Einsatz meines Lebens verteidigte? Natürlich Noël, seit den achteinhalb Jahren, da er auf der Welt ist. Doch das ist selbstverständlich, Mütterlichkeit, Instinkt, Liebe eben, weil er mein Kind ist, das Kind, das ich kenne. Doch das ist so selbstverständlich, geht einfach in allem, neben allem, geradezu nebenbei, ist Natur. So empfinden alle Eltern, das meine ich nicht. Das, wofür ich wirklich zur Welt gekommen bin. Das überhaupt zu vermissen und in einem Kraftakt die Weichen zu stellen, dass das Erreichen wieder möglich wird, obwohl ich nicht zu sagen weiß, was es sein soll. Es in Aljas Kolumnen zu spüren. So einfach ist das.
    Intuitiv trete ich ans Treppengeländer und schaue nach oben, sehe gerade noch den Schatten, rufe ungehalten: »Claas Ranke, du hast gelauscht, du darfst dich zeigen!«
    Er erscheint wirklich oben an der Treppe, in dünnem Pullover und Cordhose, weder Jacke noch Mantel. Was hat er überhaupt im Treppenhaus verloren, wenn er nicht ausgehen will? Ich bin es, die eben eine unschöne Szene veranstaltet hat, eigentlich weiß ich nicht, was ich sagen soll.
    Er lacht, ich fasse es nicht. Er lacht einfach. Er entschuldigt sich sichtlich amüsiert fürs Lauschen, es war zu interessant, und er hat es nicht absichtlich getan, er wollte unten die Post holen. Er trinke gleich eine Tasse Kaffee, ob ich Lust hätte auf eine kurze Pause?
    * * *
    Benno ist so was von nicht objektiv, wenn es um Noël geht, Noël soll perfekt sein.
    Die Schule hat diese Woche wieder begonnen und ich kann es nicht mehr übersehen, ich sorge mich um Noël. Er schreit nachts im Schlaf und ist doch kein Baby mehr. Ab und zu erwacht er sogar weinend. Warum eigentlich soll eine Mutter einen Jungen nicht ins Bett nehmen, wenn er Wärme braucht? Also sitze ich auf seinem Bettrand und halte die kleine Hand mit den langen Fingerchen fest. Einmal schluchzt er, er könne nicht rechnen.
    Gestern brachte er ein Brieflein nach Hause, von Frau Grau, seiner Lehrerin. Ich habe mich zum nächsten Besprechungstermin anzumelden.
    Noël weint, nun wird Frau Grau mir sagen, wie dumm er ist. – Wie bitte? – Mit zitternden Lippen bringt er es leise heraus. Frau Grau wird ihn morgen wieder aufrufen, jeden Tag tut sie das, bei Unterrichtsbeginn. Er muss ganz allein nach vorn gehen, neben ihr Pult. Dann stellt sie sich vor ihn hin. Dann schimpft sie wieder los, irgendetwas ist immer. Ich denke zuerst, Noël bringt irgendwelche Ängste in Bilder, forsche behutsam nach. Einmal ist es wegen herabgerutschter Socken, das andere Mal sind seine Hände schmutzig oder er steht nicht richtig gerade oder die Hände sind nicht am richtigen Ort, sie dürfen nie hinter dem Rücken oder in der Hosentasche sein. Immer schimpft sie so laut. Die Hände gehören ganz steif an die Seite. Jedes Mal fragt sie anschließend Zahlen ab, irgendwelche Zahlen, vielleicht Rechnen. Er kann sowieso nicht rechnen, Frau Grau sagt es. Alle starren auf ihn, einige lachen. Jetzt schluchzt er wieder. Jeden Morgen nimmt ihn diese Lehrerin vor die Klasse. Ich nehme ihn in die Arme. Ich werde mit Frau Grau reden, sie wird es nicht wieder tun. Warum überhaupt Rechnen?
    Susanne, meine Exschwiegermutter, ruft mich wegen dieses Briefleins an, sie hat auch schon mit Benno darüber gesprochen, Noël war gestern bei ihr zum Mittagessen. Sie ist in Sorge, ich scheine etwas überfordert zu sein. Es sei eine große Verantwortung, ein Kind zu erziehen. Benno habe die Schule mit so großer Leichtigkeit durchlaufen. Von Bennos Seite jedenfalls kommt überdurchschnittliche Intelligenz.
    Ich muss unbedingt mit Knut reden. Ich hatte doch keine offensichtliche Rechenschwäche, Dyskalkulie, oder hatte ich? Ich rechne noch heute nicht gern. Es wäre tröstlich, Noël hätte es von mir, denn ich hätte dies, wie man sieht, unbeschadet überstanden, ausgesessen. Jungen sollen heikler sein als Mädchen, dann könnte man doch nicht von mir auf ihn schließen?
    * * *
    Am freien Mittwochnachmittag bringe ich Noël schon wieder zu Alja, mit Moshe und Fritzi. Alja wird mit ihm draußen an der frischen Luft sein, irgendetwas

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