Todesformel
und trainiert das Verantwortungsgefühl, c) dann muss ich es nicht tun. Heute komme ich zu spät, der Kaktus steht schon in einem Fußbad. Soll ich ihn stoppen, indem ich ihn frage, ob die Zimmerlinde schon Wasser erhielt und wie viel, bei dieser sehe die Erde alarmierend hell und krümelig trocken aus? Und dann relativ unverfänglich zum Kaktusbad kommen? Als frustriertes Kind wird er in Zukunft widerwillig gießen. Wie soll ich ihn Blumen gießen lassen, ohne dass diese verdorren oder verfaulen? Es ist mein Fehler. Nie habe ich Zeit, mit ihm gemeinsam zu gießen. Man lernt doch nur beim Nachmachen. Er ist doch auf Anleitung angewiesen. Ich kann nicht andauernd reflektierend durch den Tag gehen, ich spüre doch einfach, ob eine Pflanze Wasser braucht, bevor sie ihre Blätter abwirft oder sonst wie gestresst reagiert, durch Geilwuchs oder Pigmentverlust.
Während wir uns über die Zimmerlinde unterhalten, bemerken wir zu spät, dass der Kaktus noch mehr und jetzt viel zu viel Wasser erhielt. Jetzt steht sein Topf in einem See, der sich über den Parkettfußboden rasch ausbreitet. Also kann Noël ganz rasch Fegkübel und Wischtuch holen. Trocknen muss ich sowieso selbst, es werden Ringe zurückbleiben. Ich werde hier fachkundig reinigen und neu wichsen müssen, in zwei Tagen, irgendeinmal, am nächsten Wochenende ganz sicher.
* * *
Nach dem Nachtessen fahre ich zu Knut hinaus, er wird mir beim Ausfüllen der Steuererklärung helfen. Claas macht bis zehn Uhr Babysitter, wird sich BBC oder CNN ansehen, seinem Englisch zuliebe, oder er wird lesen.
In Knuts Garageneinfahrt steht ein Motorrad, Svens ›BMW‹. Knut hat mir doch diesen Abend versprochen. Sven sitzt in Knuts Büro an Knuts Pult und starrt in einen Laptop. Er steht zwar zur Begrüßung von seinem Stuhl auf, doch das ist schon alles. Also meinetwegen ist er wirklich nicht hier. Sven scheint sich mit Knut angefreundet zu haben, Feldisberg eignet sich als Ziel für seine abendlichen Spritzfahrten. Nächstens werden sie noch gemeinsam ›jassen‹. Dann fehlt nur noch einer, sie können ja Mattis Platen-Alt darum bitten. Denke ich an ›Holsten‹, ist mir nicht zum Späßen.
Sven sitzt so konzentriert am Tisch. Jedes Mal fällt mir eigenartigerweise seine Nase auf. Maler betonen genau diese Linie des Nasenrückens in den Porträts junger Männer, eine Linie, die mit dem Schönheitssinn korrespondieren muss, fast zum Weiche-Knie-Kriegen. Dass schöne Männer launisch wären? Er kaut stur auf einem Kaugummi herum und erzeugt dabei quietschende Geräusche, er ist dabei, sich das Rauchen abzugewöhnen.
Es ist Fred Roos’ Laptop, in den er starrt. Weil Marlies Moos auch die teuren technischen Anschaffungen erwähnt hatte, hat Sven eine weitere Durchsuchung von Fred Roos’ Wohnung angeordnet, da musste irgendwo ein neuer Laptop sein. Im dunklen Kastenfuß eines Schranks hat er ihn dann ertastet.
Ich setze mich zu Knut in die Polstergruppe. Es gefalle ihm ebenso gut, mit mir ein wenig zu plaudern. Die Steuererklärung könne ich ihm hierlassen, ich hätte sicher alle Unterlagen mitgebracht; er werde sie ausfüllen und bei mir vorbeibringen. Ich bin zu froh, als dass ich ernsthaft widerspräche. Einmal eine Pause, ich fühle mich gehätschelt und Rechnen war nie mein Lieblingsfach, das weiß Knut.
Plaudern heißt heute, zuerst erzähle ich, dass Noël möglicherweise die Schule wechseln wird, dass ich mich für diese Lösung begeistern kann. Er wird dort bald wieder frei atmen und er wird nachts wieder schlafen können. Knut schaut skeptisch. »Wozu haben wir ein demokratisches Schulsystem? Du musst doch von innen Reformen durchbringen. Du musst die Eltern hinter dich bringen. Wenn diese Lehrerin, wie du sagst, in Pension gehört, so kannst du das nicht bewirken, wenn du einfach weggehst. Du denkst doch an die anderen Kinder?« Theoretisch hat er ja recht, doch gefühlsmäßig? Da braucht es keine lange Logik, für Noël bin ich direkt verantwortlich, jetzt. Du musst doch im Kleinen das Richtige tun, sonst bist du im Großen sowieso nicht glaubwürdig. Es kann nicht sein, dass dies einander widerspricht. Und wenn, würde ich mich für mein Kind entscheiden. So lebt der Mensch.
Plaudern heißt, ich klage Knut, dass Meret Platen mich eigentlich gar nicht mehr will. »Ich engagiere mich für sie, das heißt, ich habe schon viel Zeit und viel Energie für sie aufgewendet. Ich suche klarzukommen, recherchiere mit Sven zum Tod deiner beiden ›Jass‹-Kollegen,
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