Todesformel
einlegt. Ich denke, auch ein Schriftsteller ist froh, einmal am Tag mit jemandem zu sprechen und zu lachen. Was schreibt er eigentlich?
»Militär«, sagt Noël. »Claas hat glänzende Militärhefte gekauft, Panzer und Raketen, er studiert Militär auch im Computer.«
»Und dich lässt er die Hefte anschauen?«
»Nein, Claas sagt, es ist zwar wie im Märchen vom bösen Wolf, wer den Wolf nicht kennt, den kann er fressen. Claas sagt, niemand schaut Märchen an, sie werden erzählt, man hört sie und denkt sich, wie es aussieht, dann braucht man sie nicht zu träumen.«
Claas hat ihm die Geschichte ›Alibaba und die vierzig Räuber‹ erzählt. Schlaue Märchen mag Noël, nicht die für die kleinen Kinder. Ich muss zugeben, diese Geschichte nicht zu kennen, was Noël offensichtlich befriedigt.
Claas schwärme ich vom Münster vor, als ich meine beiden Schnuckel schon wieder bei ihm abhole und mich nach dem Wann und Wie der Deckensanierung erkundige. »Wird das nicht bald erledigt, kommt der Morgen, an dem ich diesen hässlichen Fleck nicht mehr sehe. Wenn du das Hässliche nicht mehr als solches wahrnimmst, dann hat es Zugang zu dir gewonnen, dann wird mehr und mehr Kaputtes, Hässliches in deiner Umgebung auftauchen.«
Claas lässt einen Disput schon gar nicht aufkommen, er neckt: »Du mit deinen Prinzipien, das sind die, die ein hohes Soll erfüllen, streng sind, zu sich. Noël wirkt doch gar nicht, als hätte er eine autoritäre Mutter.«
Die Art, wie er es sagt, bringt mich zum Lachen. Es tut so gut, mit einem Erwachsenen zu spaßen. Schönheit als Antistress, die einen schauen in den Spiegel und andere bestaunen das Münster.
»Der schönste Ort auf der Welt, den ich kenne, ist der Platz vor dem Münster. Du spurtest eine der schmalen Gassen hoch, stellst dich an die Ecke des weiten Platzes, schaust. Die ausladende Front, das ist Schönheit. Dieses Bild nehme ich dann mit, das ist alles.«
Ich suche nach Worten. »Das Münster, das ist die Kraft all der Menschen, die es erbaut und die darin gebetet haben, das ist zu fühlen. Mir ist jede zur Schau gestellte Religiosität zu nah bei Heuchelei, doch stehe ich vor dem Münster, trägt es mich in seine Proportionalität, zieht mich nach oben – irgendwie.«
Noël schaut zweifelnd. Claas lacht und ist noch nie auf den Münsterturm gestiegen.
Noël und ich, wir führen Claas am Sonntagnachmittag ins Münster. Innen ist es wie immer enttäuschend grau. Du musst mit halb geschlossenen Augen vom Seitenschiff her in den Chor schauen, den Raum schwach wahrnehmen: Dann siehst du es, bunt und reich, mit Blau, Rot und Gold, geschnitzt, gemalt und in Glas, farbig wie die ›Sainte-Chapelle‹ auf der Insel, arabisch eben. Ich begeistere mich, rede für Claas, fühle, dass einer das sieht, was ich sehe. Claas sieht mit meinen Augen in einer fast peinlichen Nähe, ein Schriftsteller mit den Augen für Kaffeetischbücher.
Ich steige hinter ihm die Turmtreppen hoch, Noël drängt voraus. Ich belustige mich, Claas legt wie Sven Wert auf schöne Kleider, doch seine müssen so aussehen, als wären sie zufällig gekauft; ich bin mir sicher, irgendwo ist das entscheidende Etikett. Natürlich sehe ich seine Beine, seinen Hintern vor mir. Mir gefällt sein weicher, elastischer Gang, Tiger gehen so oder Molosser; keine abgetretenen Absätze, Sohlen mit Gumminoppen. Ich ertappe mich beim Gedanken, ob dieser Mann vor mir, dessen Brettbauch ich ja schon gesehen habe, weich ist oder heftig, man kann sich beides denken. Auf jeden Fall steigt er federnd mit einem Gefühl für Rhythmus die Treppen vor mir hoch, läuft fast. Trotz Fitness kann ich nicht mithalten, gerate rasch außer Atem, nächstens muss ich mich auf die Treppe setzen. Noël und Claas warten auf dem zweiten Zwischendeck, meinen, ich hätte mir einfach Zeit gelassen. »Geht nur schon vor, ich genieße für einen Augenblick den Blick hier über das Dach des Seitenschiffs, ich liebe grüne Ziegel.«
Ich sitze auf einem Dachsparren in einer Nische zum nächsten Aufgang, von einer Strebe halb verdeckt. Schon vorher hatte ich gemeint, jemand steige gleich hinter mir die Treppen hoch, doch obwohl ich so langsam war, war da nie jemand. Jetzt höre ich leise treppensteigend Schritte. Da tritt auch schon jemand Großes in einem hellen Anorak auf die Plattform, eilt an mir vorbei – ein blonder Pferdeschwanz, Sven. In der Tür zum Aufgang lauscht er nach oben, sieht sich um, ist verschwunden. Na, so was! Ich warte in meiner
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