Todesformel
als wäre dies normal. Menschen, die Vorbilder sein sollten, die große Reden halten, brechen die Regeln. Viele tun es um ein paar Hunderter. Die meisten geben vor, jemand anders zu sein als die, die sie in Wirklichkeit sind. Immer wieder fragt er sich, ob dies die menschliche Natur sein soll, seinen Nächsten zu betrügen. Nichts anderes hat er während der letzten Jahre gesehen: Wer betrügt, gewinnt. Er will nicht, dass dies so ist. Rousseau oder Hobbes, er will, dass der Mensch gut ist. Wie käme er dazu, anders zu sein, besser sein zu wollen als alle anderen? Vielleicht hat er sich selbst mit dieser Vorgabe um sein ganzes bisheriges Leben betrogen?
»Wach auf. Wenn du so denkst, rutschest du in eine Depression. Wie willst du dann handeln, wenn du sollst?«
Real erkundigt sich Sven nach Alja Berken. »Was weißt du wirklich von ihr?«
Spöttisch nennt er sich selbst einen guten Spürhund, er hat sich an die Spezialabteilung gewandt. Ihre Fiche war zwar gelöscht, sie war ja auch belanglos, und Alja Berken wurde seither nie mehr erfasst. Natürlich kann man noch immer lesen, was einmal war. In ihrer Jugend hat Alja Berken immerhin in einer Kommune verkehrt, und das ist das Pikante, diese Kommune war damals während eines Sommers hier in der ›Mey-Mühle‹ eingemietet. Neunmal ist Alja Berken auf ein Wochenende als Köchin und als Geliebte hier gewesen. Sie selbst war apolitisch. Vielleicht war sie aber einfach zu schlau für irgendeinen durchschnittlichen Spitzel. Sven kann sich gut vorstellen, dass er selbst unbemerkt durchginge, wenn er es denn darauf anlegte. Leute, die früher politische Spione waren, sind doch heute wieder aktiv, zum Beispiel als Wirtschaftsspione, für wen auch immer. Im Fall ›Delton‹ könnte jetzt Wirtschaftsspionage im Spiel sein.
Ich reagiere heftig, spöttisch, das ist ein ausgesuchter Blödsinn. Muss man denn alles durchdenken, nur weil es sich denken lässt? Alja ist mehr als eine Mutter zu mir, sie ist meine selbst gewählte Freundin. Sich Alja in einen Mord verwickelt vorzustellen, ist das Abstruseste, das mir je begegnet ist.
* * *
Susanne kommt mitten im Morgen in meine Kanzlei, sehr schick. Es geht um das Thema Schulwechsel. Sie kann diese Idee nicht gut finden, da diese Schule letztlich alternativ ist und zudem eine weltanschauliche Ausrichtung hat. Was soll ich da sagen? Ich habe sie nicht nach ihrer Meinung gefragt.
Sie hat von Noël wie von Benno von unserer Verschönerung von Vorgarten und Terrasse gehört. Was soll dieses eigenhändige Eintopfen? Das scheint ihr doch sehr ein ›Zurück zur Natur‹, ein Rückfall in Pfahlbauerzeiten. Erstens hat eine intelligente Frau doch Besseres zu tun, und will ich denn zweitens im Ernst Bennos Sohn zum Gärtner machen? Es stört sie auch sehr, wenn Noël mich beim Vornamen nennt.
»Auf Benno nimmst du wohl keinerlei Rücksicht mehr? Nicht nur, dass es deinem Ruf als Anwältin schadet, Benno hat schließlich kein Bauernmädchen geheiratet. Deine Mutter führt immerhin eine renommierte Psychopraxis in New York, zählt prominente Politiker und Stars zu ihren Bekannten.«
»Susanne, dazu fehlt mir leider die Zeit. Gut, ich habe einen Fehler gemacht, nämlich den, ich hätte gleich sehen müssen, dass ich mit Dorothys freier Erziehung nie in Bennos und deine Welt passen konnte. Wenn du jetzt ausgerechnet Dorothys Erfolg als Argument gegen meine Gartenarbeit anführst, so ist das unerträglich. Noëls Schule geht einzig Noël, Benno und mich etwas an. Du wirst deine Großmutterrolle von jetzt an in Bennos Zeit ausleben.«
Ich begleite sie hinaus, höflich, meine Arbeitszeit läuft. Unter der Tür sage ich: »Übrigens haben wir mit der Hausvermietung einen Vertrag abgeschlossen. Noël und ich haben uns verpflichtet, die Umgebung des Hauses gärtnerisch zu besorgen. Wir bemühen uns, unseren Job gut zu machen, es ist eine Hauswartstellung.«
Natürlich rege ich mich auf, fast zittere ich. Ich habe zu lang geschwiegen, weil ich meinte, das gehöre zur Charakterschulung. Zu lange zu unmöglichen Menschen tolerant gewesen zu sein. Alja hat mich darauf aufmerksam gemacht, es kommt einer Lüge gleich, sich selbst gegenüber. Es wird sowieso falsch verstanden, als Zustimmung, Unterwürfigkeit und Schwäche. Mit den Jahren entwickeln sich daraus Rückenprobleme.
Sind unser Schmücken des Balkons mit Blumen und die Pflege des Vorgartens nicht eigentlich ein ›Hier stehe ich, ich kann nicht anders‹?
9
AUS ALJAS GARTEN:
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