Todesformel
gut?«
»Du denkst, ich schweife ab?« Alja schaut wieder wach. »Ich habe zwar eine grässliche Grippe, doch heute geht es mir schon besser. Setz dich wieder.« Sie greift in ihren Shopper und zieht einen jener festen gelben Briefumschläge heraus, wie wir sie auch in der Kanzlei benutzen. Ihre schmale Hand zittert. »Da ist es, nicht das Original, das habe ich ja zurückgebracht, das hier ist meine Kopie.« Mit einem halb triumphierenden Lächeln zieht sie mit zwei Fingern eine CD aus dem Kuvert, schiebt sie über den Tisch in meine Richtung. Ich schaue darauf, sie gefällt mir gar nicht. Alja redet jetzt schnell.
»Wenn jemand an dieser weltabgeschiedenen Stelle einen toten Briefkasten einrichtete, so musste etwas in diesem Päckchen sein, das diese Mühe wert war, etwas Heikles, etwas, das die Polizei vielleicht doch wissen sollte. Doch mit der Polizei ist es so eine Sache, das habe ich mir später überlegt, da bist du gleich in den Akten, auch wenn etwas überhaupt nichts mit dir zu tun hat. Auf jeden Fall bin ich in jener Nacht mit meinem alten Fahrrad zurückgefahren, habe die CD geholt.«
Sie sitzt mir gegenüber, rührt mit dem Löffel einen weiteren und noch einen weiteren Zucker in ihre Tasse, gedankenverloren, rührt und rührt, vorsichtig, nicht endend.
»Alja, träumst du?«
Endlich legt sie den Löffel hin.
»Es war gespenstisch, diese Nachtfahrt bei so schlechtem Wetter. Ich bin den Berg hochgefahren, das Päckchen war noch da. Zu Hause habe ich es geöffnet, es war eine CD-ROM. Ich habe sie kopiert, die Original-CD-ROM wieder ins Päckchen gesteckt, man konnte nicht bemerken, dass ich es geöffnet hatte. Doch ich konnte meine Kopie dann nicht lesen. Auf jeden Fall habe ich sie gut versteckt, noch in der gleichen Nacht, auf dem Boden.« Alja hustet schon wieder, trinkt schlürfend. »Das Päckchen habe ich am anderen Morgen zurückgebracht.«
Alja soll sich oben aufs Gästebett legen. Am Mittag werden wir uns damit befassen. Lukas und ich müssen jetzt arbeiten.
Noël verbringt den Mittag im Training, ein Imbiss ist rasch hergerichtet. Wir gehen wieder nach unten in mein Büro, setzen uns an den Computertisch. Mein neuer Laptop sollte mit allen Programmvarianten ausgerüstet sein, spricht sofort auf den Datenträger an.
Alja rückt mit ihrem Stuhl dicht zu mir. Konzentriert starren wir auf den blauen Bildschirm, ich muss bloß klicken, klicken, klicken und die entsprechenden Tasten drücken, offensichtlich ist ein Film darauf, schon läuft er.
Gebannt schauen wir auf eine Gegend mit Hügeln, ein weites Feld, eine Piste, ein hangarähnlicher Schuppen, Männer in Schutzanzügen. Und dann bin ich drauf und dran, den Computer zu schließen, aus, fertig, ich will das nicht sehen. Doch wenn wir schon so weit sind … Ich lehne mich zurück, mache die Augen ganz klein, um es nicht richtig hereinzulassen, als wüsste ich genau, was ich zu sehen kriege. Irgendeinmal muss mich Alja am Arm gepackt haben. Ich fühle nichts. Später sind auf der Haut die Nähte meiner Bluse und sogar eine Falte rot eingedrückt zu sehen.
Der Film ist ein Zeitraffer, eine schwarze Zeitskala läuft links von oben nach unten über den Bildschirm, wissenschaftlich die Uhrzeit, er dauert vier Minuten. Daran gehängt ein zweiter, auch er mit Zeitskala. Auch er ist kurz. Im Nachhinein ist der mit den Affen noch schlimmer als der mit den Menschen, vielleicht, weil er mich ungeschützt traf, weil ich mich gegen den zweiten schon besser abzukapseln vermochte. Alja hält das Gesicht in den Händen verborgen, meines fühlt sich von innen heraus an wie ein gläserner Fels, eine unempfindliche Maske aus Styropor oder Eiskristallen. Wie eine Mumie sitze ich da, tippe mit völlig gefühllosen Fingern die Fortsetzung ein. Es erscheinen ganze zwölf Seiten von Zahlenmaterial, mit Fremdzeichen durchsetzt, da liegt ein Schlüssel darüber. Ich zweifle nicht, dass es wissenschaftliche Daten sind, chemische Formeln. Wir haben die Wirkung eines Stoffs gesehen, eines unsichtbaren, rasch wirkenden, tödlichen Gases. Da braucht man nicht darüber nachzudenken. Es waren zwei Rassen von Affen, pavianähnliche und die anderen mit dem hellen flauschigen Pelz. Die eine starb, die andere nicht. Es waren zwei ›Sorten‹ Menschen – die weißhäutigen starben nicht. Ein Teil der Affen, ein Teil der Menschen krepierte, ohne Ton. Da waren sehr exakte Kameras installiert. Menschen haben das angeordnet, Menschen haben das ausgeführt, Tiere und
Weitere Kostenlose Bücher