Todesfrist
Im Reflex riss sie die Arme hoch. Der Sicherheitsgurt schnürte sie ein. Ihr Herz begann zu rasen. Sie blickte in den Rückspiegel. Ben und die anderen waren in dessen Wagen gestiegen. Dann versperrte ihr eine dunkle Gestalt mit Kapuze auf dem Rücksitz die Sicht.
»Die Klinge ist zwölf Zentimeter lang und durchbohrt Ihre Lunge wie Butter. In weniger als einer Minute sind Sie in diesem
Auto an Ihrem eigenen Blut erstickt. Also setzen Sie den Blinker, und fahren Sie los. Langsam!«, befahl der Mann. Seine Stimme klang hell und vertraut.
Dusty kläffte.
»Aus!« Helens Stimme zitterte. Sie spürte den Atem des Mannes. Im Rückspiegel sah sie, dass sich seine Kapuze unmittelbar hinter ihrer Kopfstütze befand. Er musste sich nicht einmal klein machen. Aus Bens und Sneijders Position war unmöglich zu erkennen, dass sich außer ihr noch jemand im Wagen befand.
Sie schielte zur Hupe. Sollte sie es riskieren? Sie blickte kurz in den Rückspiegel. Die Augen des Mannes fixierten sie.
»Denken Sie nicht einmal dran!«
»Sie sind Carl Boni, nicht wahr?«, murmelte Helen, doch die Frage hätte sie sich sparen können. Sie kannte Carls Stimme und den ostdeutschen Akzent von Rose Harmanns Tonbandaufzeichnungen.
»Fahren Sie!«, zischte er.
Helen setzte den Blinker und scherte mit dem Wagen aus der Parklücke. Dusty knurrte immer noch. Sie griff nach dem Terrier. »Schon gut, mein Kleiner.«
»Hände ans Steuer!«
Nun wurde ihr klar, warum sich der Mann nicht erst während der Fahrt zu erkennen gegeben hatte. Vor Schreck hätte sie das Steuer verrissen. Im Rückspiegel sah sie, wie sich die Türen von Bens Wagen schlossen. Doch das Auto fuhr nicht los. Verdammt, warum kommen die nicht?
»Schauen Sie nach vorne!«
Sie blickte geradeaus, schielte aber in den Seitenspiegel. Die Türen öffneten sich. Ben stieg aus dem Wagen. Er winkte Helen.
»Blick nach vorne!« Die Messerspitze durchbohrte Helens Jogginganzug und schnitt zwischen ihren Rippen ins Fleisch.
»Machen Sie das Radio aus!«
Helen schaltete das Gerät aus. Bis auf den Atem des Mannes und Dustys Knurren war es still im Wagen. Er dirigierte sie zuerst nach
rechts in die Ketzergasse, dann nach links auf die Triester Straße. Die ländliche Gegend wich Einkaufszentren und grauen Wohnhäusern. Sie gelangten zu einer belebten Kreuzung, über die eine Straßenbahn ratterte. Lastwagen reihten sich auf dem Zubringer aneinander.
»Langsamer«, befahl der Mann.
Die Ampel sprang auf Rot, und Helen hielt. Der Mann zwängte sich zwischen den Sitzen nach vorne und bohrte ihr dabei das Messer in die Seite. Zum ersten Mal sah sie seine Augen deutlich. Das intensive Blau und die langen geschwungenen Wimpern wirkten hypnotisch. Er war etwa dreiundzwanzig Jahre alt, hatte ein schmales, kantiges Gesicht und blonde, fast schon gelbe Haare. Dusty jaulte auf, als er ihn am Halsband packte und in den Fußbereich drängte.
»Tun Sie dem Hund bitte nichts«, flehte Helen.
Der Mann öffnete die Tür und schob Dusty mit dem Fuß zum Spalt. Der Terrier schnappte nach seinem Hosenbein, doch der Mann stieß ihn ins Freie. Dann knallte er die Tür zu und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
»Nein, bitte nicht!« Helen wollte aussteigen, doch der Mann legte eine Hand über den Klickverschluss ihres Sicherheitsgurtes. Zugleich bohrte er ihr die Klinge tiefer in die Rippen.
»Sie haben mich hintergangen. Falls Sie nicht spuren, werde ich zustoßen.«
Dusty stand neben dem Wagen. Sie sah ihn nicht, hörte jedoch sein Jaulen und wie er mit den Pfoten an der Tür kratzte.
»Bitte nicht. Lassen Sie den Hund nicht allein draußen.« Helen begann zu weinen.
Die Ampel stand immer noch auf Rot.
»Geben Sie mir Ihr Handy!« Er ließ das Fenster ein Stück herunter. »Los!«
Dustys Winseln war nun lauter zu hören. Sie reichte ihm das Telefon, und er warf es durch den Fensterspalt nach draußen. Helen wischte sich die Tränen aus den Augen. Bemerkte denn keiner
der Passanten, was hier geschah? Mit verschleiertem Blick sah sie im Rückspiegel, dass ihr kein Wagen folgte.
Wo bleiben die nur?
Die Ampel sprang von Gelb auf Grün.
»Fahren Sie!« Er bohrte ihr die Messerspitze ins Fleisch. Helen schrie auf. Sie legte den Gang ein und fuhr los. Zügig überholte sie eine Straßenbahn. Im Seitenspiegel sah sie Dusty neben der Straßenbahn dem Wagen nachlaufen. Oh Gott, der Hund hetzte blindlings über die Kreuzung.
»Schneller!«
Nun kam eine Grünphase. Nach einigen Querstraßen blieb
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