Todesfrist
ihr fiel nur ihr bevorstehender Geburtstag ein – der überschattet wäre von Mutters Begräbnis. Da erinnerte sie sich an das Paket im blauen Geschenkpapier mit der gelben Schleife und der an sie gerichteten Karte, die sie in Mutters Schrank gefunden hatte. Was hatte Mama ihr schenken wollen? Einen dicken Bildband?
Kohler blickte auf die Armbanduhr. »Der Ersatzwagen kommt in fünf Minuten.« Er stieß sich von der Motorhaube ab und ging die Straße hinunter.
Sneijder musterte Sabine. »Woran denken Sie?«
»An Bücher«, murmelte sie.
»Ihnen geht die Haital-Sache wohl nicht aus dem Kopf.«
»Was? Nein, ich …«
»Wenn Sie wüssten, wie der Konzern vorgeht, würden Sie mich verstehen.«
Dieser eingebildete Idiot dachte wohl, alles drehte sich ständig um ihn. Inzwischen stand Kohler außer Hörweite.
»Haital setzt Händler unter Druck, kleine Buchhandlungen nicht mehr zu beliefern«, fuhr Sneijder fort. »Dann macht Haital ein Kaufangebot, um den Standort zu schließen. Falls nicht, folgt auf den Boykott das Mobbing. Arbeitslose werden engagiert, in der Buchhandlung rumzuhängen. Das Image geht den Bach runter, die Stammkundschaft bleibt aus.«
Sabine wollte den ganzen Mist nicht hören, aber Sneijder war nicht zu stoppen.
»Die Stadtverwaltung wird geschmiert, worauf Kanalanschluss und elektrische Leitungen der Buchhandlung saniert werden. Der Ersatzstrom kommt von einem Dieselaggregat, und vor der Eingangstür liegt eine Baustelle. Nach einer Woche werden die Arbeiter zu einem anderen Bauplatz abgezogen, aber der ratternde Generator und die Holzplanken über dem Loch in der Straße bleiben. Nach zwei Monaten ist der Familienbetrieb finanziell am Ende.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht«, murmelte Sabine. Nichts und niemand würde Sneijder helfen können. Der Mann war nicht nur verbittert, sondern auch paranoid. »Sie sollten aufhören, nur Biografien von Menschen zu lesen, die den Freitod gewählt haben.«
»Sagt sich leichter, wenn sich der eigene Vater nicht erhängt hat«, murmelte er.
Sabine bekam einen säuerlichen Geschmack im Mund. »Tut mir leid.« Ein Bus fuhr vorbei, gefolgt von ein paar Autos, doch keines blieb stehen. Kohler stand immer noch außer Hörweite und telefonierte. Ein süßer Duft wehte zu Sabine herüber. »Rauchen Sie deshalb Gras?«
»Das mache ich, um einen anderen Schmerz zu vergessen.«
Sie drehte sich zu ihm. Er sah elend aus. »Cluster-Kopfschmerzen?«
Verächtlich verzog er den Mund. Während die Zigarette in seinem Mundwinkel hing, tippte er auf seinem iPhone herum. »Mein Lebensgefährte ist vor vielen Jahren an einer Immunschwäche gestorben.«
Oh, mein Gott. Wann kommt endlich der Ersatzwagen?
»Hören Sie«, unterbrach sie ihn. »Das alles tut mir wahnsinnig leid, aber ich bin nicht Ihre Psychotherapeutin. Sie müssen mir das nicht erzählen.«
»Ist kein Geheimnis.« Er zuckte mit den Achseln, legte das iPhone schief und tippte auf dem Bildschirm herum. »Meine Kollegen in Wiesbaden wissen davon.«
Es war kaum zu fassen, dass Sneijder ihr all die intimen Details auftischte. Brauchte er einen Gesprächspartner, wenn er eine Aktion wie diese vermasselt hatte?
»Ich langweile Sie, nicht wahr?«
Sie gab keine Antwort. »Was machen Sie da eigentlich?«
Seine Finger flogen über die Tastatur. »Ich sehe mir Helen Bergers Webseite an. Ein nettes Foto – stammt aus Ibiza.«
Unglaublich! Während die Kripo nach Berger suchte, sah er sich die Fotos auf deren Webseite an.
Kohler steckte das Handy weg und lief zu ihnen. »Es gibt Neuigkeiten«, rief er. »Der Mann, den Sie in Carl Bonis Wohnung angeschossen haben, wurde notoperiert und ist jetzt im Aufwachzimmer. Seine Identität ist geklärt. Er heißt Eduard Wiltsching, ist in Carls Alter und arbeitet für Rubens Autowerkstatt. Der Kastenwagen, den wir vor Carls Haustür sahen, gehört ihm.«
Sneijder richtete sich auf. »Carls Komplize?«
Kohler schüttelte den Kopf. »Da ging es um eine andere Sache. Carl ist an seinem letzten Arbeitstag mit Rubens Drogengeld aus der Schwarzgeldkasse abgehauen. Fünfunddreißigtausend Euro! Wiltsching hatte Carls Wohnung aufgebrochen und nach dem Geld gesucht, als wir ihn überraschten.«
»Deshalb wollte er durchs Fenster abhauen und griff nach der Waffe«, folgerte Sabine.
Sneijder zerdrückte den Joint auf dem Boden. »Dann hatte Ihre ehemalige Kripopsychologin recht: Carl ist ein Einzeltäter – und noch irgendwo dort draußen. Ich schätze, da kommt
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