Todesfrist
säuerliche Geschmack in ihrem Mund erinnerte sie an Erbrochenes. Sie versuchte, sich aufzurichten, doch die Schmerzen in ihrem Schädel pochten bei der kleinsten Bewegung so stark, dass sie zurückfiel.
Ein Blitz erhellte die Umgebung, zugleich krachte der Donner in unmittelbarer Nähe. Durch die Spannung in der Luft stellten sich die feinen Härchen ihrer Unterarme auf. Sie drehte den Kopf, so weit sie konnte. Weiße Bettlaken hingen um sie herum von der Decke. Offensichtlich lag sie auf einer Werkbank. Sie roch altes Holz und Lederriemen. Als sie versuchte, die Handgelenke herauszuwinden, schnitten ihr die Gurte ins Fleisch.
Dann kam die Erinnerung. Nachdem Carl Boni Dusty ausgesetzt und ihr Telefon aus dem Wagen geworfen hatte, waren sie etwa eine halbe Stunde mit dem Auto gefahren. Mit der Messerspitze zwischen den Rippen hatte sie nicht einmal gewagt, tief einzuatmen. Ständig hatte sie an Dusty gedacht und völlig die Orientierung verloren. Sie waren in einem von schwarzen Wolken bedeckten, schäbigen Stadtteil Wiens stehen geblieben. Merkwürdigerweise konnte sie sich an ein völlig belangloses Detail erinnern: den Donner in weiter Ferne, der sintflutartigen Regen ankündigte. Dusty. Hoffentlich würde er irgendwo Unterschlupf finden. Bitte, lass nicht zu, dass er vor ein Auto läuft oder von einer Straßenbahn überfahren wird. An einer roten Ampel hatte sie den Stich im Nacken gespürt, und ihr Kopf war auf das Lenkrad gesunken.
Wie lange war das her gewesen? Wie weit hatte Carl sie geschleppt? Warum hatte ihn niemand dabei beobachtet und Hilfe geholt?
Mittlerweile hatte das Gewitter eingesetzt. Instinktiv spürte sie, dass sie sich in einem Keller befand. Es gab keine Straßenbeleuchtung. Das Licht eines Blitzes fiel durch eine Luke und zauberte bizarre Schatten auf das Bettlaken. Beim nächsten Blitz drehte sie den Kopf auf die andere Seite. Auf einem Beistelltisch lag eine Nierenschale mit altmodischem Folterwerkzeug. Mundklammern, Zahnarztbesteck, Daumenschrauben, eine Knochensäge und eine Unzahl an Skalpellen, Messern und Scheren. Am meisten erschreckte sie jedoch die Rosenschere mit Feder und geschwungener Klinge, die wie ein Papageienschnabel aussah. Ihre Gedanken spielten verrückt.
»Messer, Gabel, Schere, Licht, ist für kleine Kinder nicht.«
Sie zuckte zusammen.
Das Laken schob sich zur Seite. Carl Boni trat an die Werkbank. Eine hagere Gestalt mit langen Armen und dünnen Fingern. Er trug immer noch den schwarzen Pullover mit der Kapuze. »Ausgeschlafen? Dann können wir beginnen.«
Er griff nach der Rosenschere und klemmte ihren Daumen zwischen die Schneidblätter.
Helens Herz tat einen Satz. Sie versuchte, sich aufzubäumen. »Warten Sie!« Ihre Stimme krächzte.
Er drückte ihren Kopf auf die Bank. »Worauf? Sie haben gelogen und sich nicht an die Regeln gehalten.«
Aber ich habe Ihr Rätsel gelöst, Sie verdammter Bastard!, wollte sie schreien, doch das hätte Carl nur noch wütender gemacht. Bewahre einen kühlen Kopf, schärfte sie sich ein. Du hast Rose Harmanns Protokolle gelesen, du weißt, was sie mit ihm angestellt hat. Du hast die Tonbandaufzeichnungen der Sitzungen und Carls besprochene Kassetten gehört. Trotzdem war er kein offenes Buch für sie, sondern so fragil und komplex, dass ein falsches Wort von ihr tödlich sein konnte.
»Sie haben mir ein Rätsel gestellt, woraufhin ich mich mit Ihnen beschäftigt habe. Ich kann Sie verstehen … ich weiß, wer Sie sind.«
»So?« Er hängte eine Petroleumlampe an einen Deckenhaken.
»Stromausfall, wir müssen heute leider so operieren.« Er drehte am Regler, und es wurde heller. »Wer bin ich denn?« Er zog die Kapuze vom Kopf.
Seine blonden Haare klebten nass vom Regen in der Stirn und kräuselten sich an den Schläfen. Die blauen Augen mit den langen Wimpern – und dieser intensive Blick! Ein Psychopath mit dem Aussehen eines Engels.
»Wer bin ich?« Er verstärkte den Druck der Schere.
»Struwwelpeter.«
Auf seinem Gesicht zeigte sich keine Reaktion, aber der Druck der Klingen ließ nach. »Wer? Halten Sie mich für verrückt?«
Helen schluckte. Was hätte sie für ein Glas Wasser gegeben, um den ätzenden Geschmack aus ihrem Mund zu bekommen und einen klaren Gedanken fassen zu können. In einem Therapieraum wäre dieses Gespräch mit Carl kein Problem gewesen, doch hier turnten ihre Gedanken wie verrückt umher.
»Sie haben schreckliche Erinnerungen an die strenge Erziehung in Ihrer Kindheit. Sie tragen
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