Todesfrist
nicht nur seelische, sondern auch körperliche Narben. Sie werden diese Erinnerungen nie vergessen können. Aber Sie möchten sie verarbeiten.« Helen dachte an Sabine Nemez’ Aufzählung der Morde. »Daher schlüpfen Sie in Struwwelpeters Rolle. Er hilft Ihnen, die grausamen Kinderbuch-Geschichten in Ihrem Kopf zu eliminieren.«
»Blödsinn!«
Helen wusste, sie war auf dem richtigen Weg. »Sie inszenieren die Geschichten, spielen die Szenen nach und übertragen das dadurch in Erinnerung gerufene Leid auf andere. Es hat doch funktioniert.«
»Zumindest eine Zeit lang«, flüsterte er.
»Das ist natürlich. Ich kann Sie verstehen.«
»Einen Scheißdreck können Sie!« Unwillkürlich verstärkte sich der Druck.
»Darf ich etwas sagen?«, krächzte sie. »Normalerweise ist Gewalt ein Resultat unterdrückter Gefühle. Bei Ihnen trifft das Gegenteil
zu. Doktor Harmann hat sie durch die Therapie in einen Zustand versetzt, als würde man von einem Druckkochtopf den Deckel reißen.« Helen wartete, bis sich die Information gesetzt hatte und Carls Blick wieder klar wurde. »Die Gewalt, die Sie Ihren Opfern antun, ist das Ergebnis dieser ausgelassenen, chaotischen Gefühle – die weggesperrte Erinnerung an Ihre Kindheit.«
»Ich bin nicht daran schuld.«
»Carl, das weiß ich.« Helen versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Er hatte Dusty sich selbst überlassen, und am liebsten hätte sie ihm ein Skalpell in die Brust gerammt. »Doktor Harmann hat in einer viel zu kurzen Crash-Therapie Ihre Gefühle durcheinandergebracht …«
… und ein Monster erzeugt.
»Um das zu reparieren, haben Sie mich ausgewählt, in Ihrem Spiel mitzuwirken.«
»Nein, ich habe Sie ausgesucht, weil Rose mit Ihrem Mann schläft.«
Helen schloss für einen Moment die Augen und dachte an Frank, diesen Mistkerl. Er würde jetzt auf der Party den aalglatten Gentleman spielen, ohne zu wissen, wo sie steckte. Ob er überhaupt einen Gedanken an sie verschwendete, außer dass sie ihren Verpflichtungen als Gastgeberin nicht nachkam? »Richtig. Rose hat mich genauso hintergangen und betrogen wie Sie. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Ihr Unterbewusstsein wählte mich aus, Ihr Rätsel zu lösen, weil Sie tief drinnen nach Erlösung suchen. Nach der richtigen Hilfe.«
»Und Sie glauben allen Ernstes, die können Sie mir geben?«
»Das Schlüsselwort lautet doch Rache, nicht wahr?«
Carl nahm die Rosenschere weg. Die Schneideblätter fuhren zusammen, und er trieb die Spitze neben Helens Kopf schwungvoll ins Holz.
»Sie sind davon überzeugt, dass Ihre Rache an den Frauen, die Ihren Lebensweg kreuzten, zur Selbstreinigung führt.«
»Und wovon sind Sie überzeugt?«, fragte er.
»Ihre Rache ist ein Katalysator. Dadurch wurden mir die Augen geöffnet, was meinen Mann betrifft. Nicht nur Frauen lügen und betrügen. Auch Männer! Mein Mann hat eine Affäre mit einer anderen. Ihre Rache führt mich zur Trennung von meinem Mann …«
… und zu einem Neubeginn – falls Carl mich am Leben lässt.
»Ich bin nicht rachsüchtig«, widersprach er.
»Keine Rache aus Gier oder Neid. Rache kann für ein Opfer ein befreiendes Gefühl sein.«
Beim Wort »Opfer« schien etwas in Carls Geist zu klingeln. Sein Blick verlor sich. »An manchen Tagen ist mir, als wäre ich eingesperrt. Als gäbe es Tausende Stäbe, an denen mein Blick ständig hängen bleibt. Dahinter gibt es keine Welt. Manchmal öffnen sich die Stäbe für einen Augenblick – als würde sich wie bei einer Katze der Vorhang der Pupille aufschieben. Dann sehe ich, was dahinter liegt.« Carl verstummte und starrte ins Licht der Petroleumlampe. Ein Blitz warf Schatten auf das Laken. Den Krach des Donners schien Carl nicht wahrzunehmen.
Bei seinen letzten Worten musste Helen unwillkürlich an ein Gedicht von Rainer Maria Rilke denken. Carl hatte mit dem Dichter nicht nur den zweiten Vornamen gemeinsam. Vielleicht empfanden sie, aufgrund verschiedener traumatischer Erlebnisse, ähnlich.
»Ja, ich bin Opfer«, flüsterte er. »Ich muss es tun.« Er drehte die papageienförmige Klinge aus dem Holz.
»Carl, seien Sie vernünftig. Selbst wenn wir nicht zur Cobenzlgasse gefahren sind – die Kripo wird dieses Kellerabteil finden.«
Carl wirkte nicht beunruhigt. Doch wo immer sie sich befanden, im Wohnhaus seiner Mutter oder in einem anderen Haus, Ben und die Ermittler aus Deutschland würden sie finden. Sie musste bloß Zeit gewinnen.
Carl senkte den Blick auf sie. »Geben Sie
Weitere Kostenlose Bücher