Todesfrist
Farbpaletten und vertrocknete
Pinsel. Seit Hitzenhammers Tod war hier wohl nichts verändert worden.
Kohler schob ein Rollo nach oben und öffnete das Fenster. Der Himmel über Wien war schwarz wie die Nacht. Donner grollten in unmittelbarer Nähe. Die Tropfen zerplatzten wie Knallfrösche auf dem Fensterblech. Der Wolkenbruch drückte kalte Luft ins Zimmer. »Fehlanzeige«, sagte Kohler.
»Nicht ganz.« Sneijder kam mit einem Buch aus dem Schlafzimmer. Er schob Pinsel, Farbtuben und Klebebänder von einem niedrigen Arbeitstisch und legte den dünnen kartonierten Band vorsichtig hin . Lustige Geschichten und drollige Bilder stand in alter Kurrentschrift auf der vergilbten Pappe. Darunter war zu lesen: Mit 15 schön kolorirten Tafeln für Kinder von 3–6 Jahren. Der Einband zeigte eine veränderte, altertümlich anmutende Version des Struwwelpeters, mit ungebändigter Mähne und langen, gekrümmten Fingernägeln. Allerdings war der Begriff Struwwelpeter nirgends zu sehen. Außerdem wurde ein gewisser Reimerich Kinderlieb als Autor genannt.
Sneijder setzte sich auf die zerschlissene Couch und schlug das Buch auf. Das gewellte Pergament knackte. »Das lag unter der Bettdecke.«
Sabine setzte sich neben ihn. Die erste Bildgeschichte erzählte die Episode vom Zappel-Philipp, nur mit älteren, ungelenk wirkenden Zeichnungen. »Hat Heinrich Hoffmann seinen Struwwelpeter hiervon abgekupfert?«
»Hoffmann brachte die Erstauflage von 1845 unter Pseudonym in Zacharias Löwenthals Verlag heraus.«
Sie musste ihm wohl einen ziemlich überraschten Blick zugeworfen haben, da er genervt seufzte. »Als Sie mich auf das Buch aufmerksam machten, habe ich mich damit befasst.« Sneijder deutete auf das Impressum. »Diese Fassung wurde mit einer Auflage von eineinhalbtausend Stück gedruckt. Unglaublich, ein Exemplar davon zu finden. Noch dazu in dieser Bruchbude.«
»Warum unter Pseudonym?«
Sneijder hob die linke Augenbraue. »Ließ sich wohl nicht mit seinem Beruf vereinbaren. Er war Kinderpsychiater und Arzt im Leichenschauhaus von Frankfurt. Später leitete er als Direktor die Anstalt für Irre und Epileptische. Ursprünglich hatte er das Buch für seinen Sohn gedichtet und gemalt. Wollte wohl etwas Passendes zu Weihnachten schenken.«
Sabine blätterte durch das Buch. »Die Geschichten sind anders gereiht als in der aktuellen Fassung, die es heutzutage in jedem Buchladen zu kaufen gibt – und zwar in der Reihenfolge der Morde.«
Nach dem Daumenlutscher kamen noch zwei Geschichten: Hans-Guck-in-die-Luft und der fliegende Robert. Falls Carl mit diesem Buch aufgewachsen war, kannte er möglicherweise die Bezeichnung »Struwwelpeter« gar nicht. Die skizzierten Bilder wirkten schrecklicher als die gängige Version, die Sabine aus ihrer Kindheit kannte. Was für ein Wahnsinn, wenn man bedachte, dass dieses Buch von einem Kinderpsychiater verfasst worden war.
»Warum faszinierten Carl ausgerechnet diese Geschichten und nicht beispielsweise die von Max und Moritz?«, fragte sie.
»Sie müssen die Frage anders formulieren«, antwortete Sneijder. »Warum schlüpft Carl ausgerechnet in die Rolle eines garstigen, ungepflegten Kindes? Das lässt tief blicken. Sehen Sie mal …« Er zog ein Blatt Papier zwischen den Seiten hervor. Mit vergilbter Schrift standen vier Absätze darauf.
Dunkel war’s, der Mond schien helle,
Eis lag auf der grünen Flur,
als ein Wagen blitzesschnelle,
langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute,
stumm in ein Gespräch vertieft,
als ein tot geschoss’ner Hase,
rasend durch die Felder lief.
Hinten lag eine alte Tante,
die erst siebzehn Jahre war,
in einer dunkelblauen Kiste,
die schwarz angestrichen war.
Darauf hockte ein blonder Knabe,
dessen rabenschwarzes Haar,
von der Fülle seiner Jahre,
schon ganz weiß geworden war.
Sneijder runzelte die Stirn. Sabine sah an seinem Gesichtsausdruck, wie die Zahnräder in seinem Gehirn verzweifelt nach einer Lösung suchten. »Beim Struwwelpeter geht es darum, dass unartige Kinder bestraft werden. Sie ertrinken, verbrennen, verhungern oder werden gebissen. Was hat dieses Gedicht damit zu tun?«
»Gar nichts«, antwortete Sabine. »Das ist ein Reim, den Kinder seit Jahrzehnten aufsagen.«
Ihre Antwort schien Sneijder nicht zu befriedigen. Er klappte das Buch zu, als Kohler zu ihnen trat.
»Das habe ich in der Küchennische gefunden.« Auf seinem Kugelschreiber hing ein münzgroßes Gerät mit Klettverschluss, das er
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