Todesfrist
blickte sich noch einmal
nach allen Seiten um, dann lief sie zur Nische. Die Frau auf den Eisenfedern des Klappbetts war bei Bewusstsein. Gefesselt und geknebelt wandte sie den Kopf voller Furcht ab.
»Ich sagte doch, Sie sollen den Raum sichern!«, fuhr Sneijder sie an. »Widersetzen Sie sich nie wieder meinen Anweisungen!«
Sabine ignorierte den Vorwurf. Die Frau brauchte dringend medizinische Versorgung. An einem Wandhaken im Holz hing eine Heckenschere mit langem Griff.
»Das ist nicht Helen Berger«, flüsterte Sabine und warf einen Blick zu Kohler, der auf der Treppe stand und telefonierte.
»Sehe ich selbst.«
Der Frau fehlten neun Finger, die nach dem Mittelhandknochen am Gelenk abgetrennt worden waren. Sabine warf einen Blick in den Eimer, der unter dem Bett stand. Die Frau verlor viel Blut, das über die Lederriemen auf den Boden tropfte, wo sich bereits eine eingetrocknete schwarze Pfütze befand.
Sabine schlüpfte aus ihrem Thermopulli und dem schwarzen Top, riss es in zwei Teile und stoppte damit die Blutung an den Händen. Sneijder blickte kurz auf ihren schwarzen BH, dann zog er der Frau den Stoffknäuel aus dem Mund.
»Alles in Ordnung, Sie sind in Sicherheit«, flüsterte er.
»Bitte! Lassen Sie mich in Ruhe. Ich weiß es nicht«, schluchzte sie, den Kopf immer noch abgewandt. Dann brach sie in Tränen aus. »Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
Sabine presste den Stoff auf die Wunden. »Was wissen Sie nicht?«
Der Blick der Frau trübte sich, als sie den Kopf drehte. Wie hypnotisiert starrte sie zur Decke. Ihre Lippen formten sich zu einem Flüstern. »›Dunkel war’s, der Mond schien helle …‹«
38
Die verdammten Lederriemen waren einfach nicht aufzukriegen … Je mehr Helen versuchte, die Handballen hindurchzuschieben, desto mehr schwitzte sie, und das Leder zog sich wie eine fleischfressende Pflanze zusammen. Ihre Haut war bereits aufgescheuert, und jede Bewegung schmerzte. Da ihre Arme an den Längsseiten der Werkbank fixiert und verdreht waren, verkrampften sich die Muskeln. Schweiß lief ihr über die Schläfen.
Am liebsten hätte sie den Stoffknäuel ausgespuckt, doch der steckte so tief in ihrem Rachen, dass sich ihr Magen durch den Würgereflex ständig zusammenzog.
Das Schlagen der Tür in der unteren Etage verstummte. Carls Schritte tönten wieder durch das Treppenhaus. Die Tür ging auf, und das Licht eines Blitzes zauberte einen größer werdenden Schatten auf das Laken. Carl zog das Tuch weg und begutachtete Knebel und Riemen.
Zärtlich strich er über ihre aufgerauten Handgelenke. »Sie fügen sich bloß unnötige Schmerzen zu.« Er legte den Kopf schief und lächelte sie an. »›Konrad, sprach die Frau Mama, ich geh aus und du bleibst da.‹« Plötzlich klang seine Stimme so hell und weich wie die eines Mädchens. »›Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach Haus ich wieder komm. Und vor allem, Konrad, hör! Lutsche nicht am Daumen mehr. Denn der Schneider mit der Scher, kommt sonst ganz geschwind daher. Und die Daumen schneidet er ab, als ob Papier es wär.‹«
Seine Augen wurden dunkel. »Waren Sie ordentlich und fromm?«
Sie wollte antworten, brachte jedoch nur ein Stöhnen hervor.
Er entfernte den Knebel. »Waren Sie artig?«
Sie hustete. »Sie sagten, ich würde an Rose Harmanns Stelle treten und jemand müsse mich retten.«
»Das war, bevor Sie mich belogen haben.«
Sie ahnte, diesmal würde es kein Spiel geben, kein Geschenk, keinen Anruf, kein Rätsel und keine vierundzwanzig Stunden Todesfrist. Doch sie hatte noch eine Chance. »Warum haben Sie am Telefon Ihre Stimme verstellt?«
Er gab keine Antwort. Emotionslos betrachtete er die Rosenschere in seiner Hand.
»Wo ist Ihr Stimmenverzerrer?«, flüsterte sie.
»Den brauche ich nicht mehr. Es ist zu gefährlich, ihn jetzt zu holen. Wenn Ihre Kollegen clever sind, haben sie ihn längst gefunden.«
Kein Spiel! Umso wichtiger war es, Zeit zu gewinnen.
»Wo bin ich?«
»An einem Ort, an dem die Kripo zuletzt nach einem Mörder suchen würde.«
Einem Mörder!
»Carl, Sie sind kein Mörder. Ich kann Sie behandeln. Wir finden einen Weg.«
»Mit welchem Ziel?«
»Die Schreckgespenster Ihrer Kindheit zu eliminieren.«
Unbeeindruckt schärfte er das Schneidewerkzeug mit einem Stein. Das gleichmäßige Geräusch machte Helen verrückt.
»Oh, Sie können mir helfen, meine Ängste zu eliminieren«, gab er zu. »Zumindest für eine gewisse Zeit.« Er wandte ihr den Rücken zu und sortierte das
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