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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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verarbeiten«, erinnerte sie ihn. »Erzählen Sie mir davon.«
    Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Diesmal lächelten seine Augen mit. Mit einem Mal erschien ein glückseliger Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich war in Dresden, am Grab meines Vaters. Ich saß am Fuß der Marmorplatte und habe mit ihm gesprochen. Ich sagte, ich weiß, weshalb er es getan hat. Nun ist mir auch klar
geworden, was er mir an seinem Sterbebett mitteilen wollte … und ich habe ihm verziehen.«
    »Das ist schön.« Rose griff nach seiner Hand. Carls Finger waren kalt. Er lächelte. Rasch ließ sie ihn los. »Bitte verzeihen Sie mir, dass ich Ihr Vertrauen missbraucht habe.«
    »Es tut mir auch leid, aber Ihnen kann ich nicht verzeihen … Sie sind eine Frau!«
    Erneut kroch Panik in Roses Kehle hoch. Was bezweckte er mit diesem Besuch bei ihr? Ihre Hände zitterten.
    Carl erhob sich und ging zur Tür. Bevor er den Therapieraum verließ, blickte er sich im Zimmer um, als wollte er von einem Lebensabschnitt Abschied nehmen. Dabei fiel sein Blick auf die Kommode.
    Der Brief! Ihr Herz schlug schneller.
    »Was haben Sie jetzt vor?«, fragte sie rasch, um ihn abzulenken, doch er hatte das Kuvert bereits entdeckt.
    Er nahm es, drehte es zwischen den Fingern und las den Empfänger. »Ist das etwa der Bericht ans Gericht, den Sie angeblich noch nicht geschrieben haben?«
    »Ich wollte ihn erst abschicken, nachdem ich mit Ihnen gesprochen habe.«
    »Rose, Sie haben mich schon wieder belogen. Sie lernen es nie!« Er klang nicht einmal enttäuscht, als hätte er von ihr nichts anderes erwartet.
    Carl riss das Kuvert auf, nahm den Brief heraus und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke. »Ach ja, Sie fragten, was ich vorhabe. Ich fahre noch heute nach München. Ich besuche eine alte Bekannte. Es hat lange gedauert, sie ausfindig zu machen. Früher wohnte sie in Köln. Aber nun freue ich mich, sie wiederzusehen. Sie kann sich bestimmt noch an mich erinnern.«
    Rose brachte ihn zur Tür. Er ging hinaus, drehte sich aber noch einmal zu ihr um. »Wenn ich zurückkomme, machen wir einen letzten Termin aus, einverstanden?«
    »Einverstanden.« Sie schluckte. »Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen in Deutschland.«

    »Oh, das werde ich haben.«
    Rose sah ihm nach, wie er zum Auto ging. Sie stieß die angehaltene Luft aus. Ihre Schultern sackten herab. In den vergangenen Minuten hätte alles Mögliche passieren können. Ihre Knie waren weich. Sie sperrte die Tür ab und ging in den Therapieraum zurück. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Weinglas und stürzte den Aperol-Spritzer in einem Zug hinunter. Dann blickte sie aus dem Fenster. Carl stieg tatsächlich in den blauen Ford Fiesta, wendete auf dem Parkplatz und fuhr davon.
    »Oh, Gott.« Sie mixte ein weiteres Glas, diesmal ohne Eiswürfel, und leerte es in einem Zug.
     
    Rose benötigte eine Viertelstunde, um ihre Nerven zu beruhigen, indem sie einfach nur die Wand anstarrte. Sie musste das Gericht von Carls Besuch verständigen. Je eher, desto besser. Wenn ihre Therapiemethoden aufflogen, dann flogen sie eben auf. Immerhin besser, als von einem Verrückten verfolgt zu werden.
    Sie blickte zur Uhr. Es war bereits halb drei. Sie musste ihre beste Freundin besuchen. Ihre beste Freundin! Was für ein Witz! Ein dummes Wortspiel, das sie sich in den letzten Monaten angewöhnt hatte.
    Im Badezimmer neben dem Therapieraum wischte sie sich Lidschatten und Lippenstift aus dem Gesicht, nahm ihre Kontaktlinsen heraus und legte sie in die Becher. Der Gesichtspuder kaschierte ihre Bräune aus dem Solarium. Aus dem Badezimmerschrank nahm sie die dicke Hornbrille, die bestimmt schon zwanzig Jahre alt war. Rose betrachtete sich im Spiegel und ließ die Mundwinkel schlaff herunterhängen.
    »Du siehst hässlich aus, altes Mädchen!«, knarrte sie mit tiefer Stimme.
    Dann schlüpfte sie aus ihren Kleidern und zog eine graue Hose, einen dunklen Rollkragenpullover und flache, abgetragene Schuhe an.
    Wieder im Bad, nahm sie die graue Perücke von der Büste. Sie
bändigte ihre roten, flott geschnittenen Haare mit Haargel und stülpte die Perücke ihrer Mutter darüber, die die alte Dame in den Siebzigern getragen hatte.
    »Damit siehst du gut zehn Jahre älter aus, arme, traurige, krebskranke Apothekerin.«
    Mit einer braunen Handtasche im Arm schlurfte sie aus dem Haus zu ihrem Auto.
    Die Praxis dieser blöden Kuh lag etwa zwanzig Autominuten entfernt. Sie würde zu ihrem Termin noch rechtzeitig kommen. Worüber

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