Todesfrist
bestimmte …«
Sie hörte, wie er den Stein in die andere Hand nahm und weiterschliff.
Schrrzt … schrrzt …
Sein Blick wurde abwesend. »Unsere Nachbarin in Köln hatte ein Verhältnis mit ihrem Vorgesetzten. Ein verheirateter Rechtsanwalt. Meine Mutter hörte, wenn er zu Besuch kam. Sie kannte sogar seine Frau, doch sie hat ihr gegenüber nie etwas erwähnt. Bestimmt habe ich der Ehefrau einen Gefallen getan, als die Pitbull-Terrier der Schlampe die Kehle aus dem Hals rissen.«
Schrrzt … schrrzt …
»Meine Hauptschullehrerin in Leipzig hatte es mit dem Turnlehrer. Während wir im Kreis liefen, verschwanden sie in die Umkleidekabine.«
Schrrzt … schrrzt …
»Und die liebe Tante Lore … ich machte bereits die Lehre … schlug mir in Vaters Beisein mit dem Holzkochlöffel auf den Hinterkopf, wenn ich beim Essen zwischen den Bissen kein Gebet aufsagte. Finden Sie das in Ordnung? Dabei hatte sie zwei uneheliche Kinder abgetrieben.«
Schrrzt … schrrzt …
»Meine Kindergärtnerin hatte gewiss auch ein Verhältnis. Bestimmt sogar. Sie trug ständig kurze Röcke, war dick mit rotem Lippenstift bemalt und schlug die Beine immer so übereinander …«
Schrrzt … schrrzt …
»Ach ja, und München.« Er lachte leise. »Es war schwierig, meine Grundschullehrerin aus Köln zu finden. Eine kleine, zierliche
Frau. Wer hätte das gedacht, aber die hatte auch ein Verhältnis … manchmal glaube ich, die ganze Welt ist verkehrt.«
Obwohl Helens Daumenstumpf wie verrückt pochte, die Wunde ohne Unterlass pulsierte und Blut über das Handgelenk lief, wurde sie hellhörig. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sabine Nemez kam aus München – er redete über deren Mutter.
Schrrzt … schrrzt …
»Und dann brannte deswegen auch noch die Schule nieder, wie sie mir vor ihrem Tod erzählt hat.«
Schrrzt … schrrzt …
»Ich merke an Ihrer Reaktion, dass Sie der Fall interessiert.«
Sie schlug die Augen auf und starrte ins Licht der Petroleumlampe. Ihr Gaumen war trocken. Sie öffnete die Lippen. »Mein Mann hat mich betrogen. Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen.«
»Sie werden es erst wissen, wenn Sie auch die Schmerzen fühlen, die ich gefühlt habe.« Er stoppte das Schleifen. Jetzt roch sie die durch die Reibung heiß gewordene Oberfläche des Steins. »Helen, Sie brauchen nicht Verständnis zu heucheln. Ich darf Sie doch Helen nennen, oder? Sie stecken mit der Kripo unter einer Decke und haben mich hintergangen. War es Ihre Idee, der Presse zu sagen, dass meine Mutter noch lebte, als man sie fand?«
»Wovon reden Sie?«
»Helen, sie war mausetot. Sie hat sich die Zunge abgebissen! Halten Sie mich für blöd? Was bezwecken Sie mit dieser Lüge?«
Helen schwieg. Sie hasste sich so sehr! Warum hatte sie nur den Mund aufgemacht?
Carl stand auf und klemmte ihren Daumen zwischen die Schneideblätter. Das Metall war warm, glühte beinahe.
»Nein, bitte nicht …«, flehte sie.
»Nein, bitte nicht«, äffte er sie nach. »Ich stelle Ihnen ein Rätsel. Können Sie es nicht lösen, schneide ich Ihnen den Daumen ab. Was bedeutet das? ›Dunkel war’s, der Mond schien helle …‹«
39
Fünf Tage vorher
Die letzte Therapiesitzung
Rose brachte ihre Klientin zur Tür und verabschiedete sich von ihr. Aus dem gegenüberliegenden Park duftete es herrlich nach Frühling. Die junge, magersüchtige Frau ging zum Parkplatz, und Rose sperrte die Tür zu ihrer Praxis ab.
Die letzte Klientin für heute. Rose blickte zur Wanduhr. Freitag, kurz nach eins. Die vergangenen Tage waren anstrengend gewesen, doch nun würde ein entspanntes Wochenende beginnen. Zunächst ein Besuch bei ihrer besten Freundin, anschließend ein Nachmittag im Wellnessbereich ihres Wohnblocks bei einer Ayurveda-Behandlung, eine Caipirinha in der Sauna-Bar, Maniküre, Friseur und abends ein Candlelight-Dinner im Marriott mit ihm.
Sie schaltete den CD-Player ein. Leise Saxofonklänge drangen aus den Boxen. Sie wiegte ihren Körper zur Musik und mixte sich dabei einen Aperol-Spritzer. Aber keinen wie in einem billigen Lokal, sondern einen mit vollmundigem Weißwein und einem Eiswürfel. Während sie an dem Glas nippte, läutete es an der Tür. Unwillkürlich blickte sie sich im Therapieraum um. Ihre Klientin hatte nichts vergessen.
Rose ging in den Vorraum. Auch an der Kleiderablage hingen weder Mantel noch Hut.
Sie öffnete die Tür.
»Treffen sich zwei Psychologen, sagt der eine zum anderen: Wie
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