Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
Vom Netzwerk:
Hitzewelle zu Kopf. »Sie meinen das Torrexin«, stellte sie betont ruhig fest.
    »Ja, richtig. Das Torrexin. Eine Tablette kostet immerhin fünfzig Euro. Was für ein teures Psychopharmakon!«, äffte er ihren Ton nach. »Es wird nur bei besonderen Patienten verwendet.«
    »Es tut mir leid.«
    »Ach was!« Er fuhr von der Couch hoch. »Sie haben mich reingelegt, ausgetrickst. Haben Sie eine Ahnung, wie blöd ich mir vorkam, als ich rausgefunden habe, dass es dieses Scheißmedikament gar nicht gibt? Wie dämlich muss ich Ihnen vorgekommen sein, als Sie mich dazu gebracht haben, weinend über meine Schwester zu reden? Carl Maria hat Ihre Praxis vollgeheult!«
    Rose legte die Hände auf ihre Oberschenkel. Ihre Handflächen waren schweißnass. Carl war eine tickende Zeitbombe. Sein Hass auf Frauen musste unermesslich groß sein, insbesondere auf Schwester und Mutter – und nun hatte sie diesen Hass mit Hilfe der Wahrheitspille auch auf sich gezogen.
    »Sie haben doch nicht etwa Angst?«, flüsterte er.

    Rose blieb ihm die Antwort schuldig. Sie hatte das Gefühl, eine unsichtbare Hand würde ihre Kehle zudrücken. Sie konnte nicht einmal schlucken.
    »Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Rose«, beruhigte er sie. »Ich habe einen Weg gefunden, die Erkenntnisse der letzten Sitzungen auf meine Art und Weise zu verarbeiten.«
    »Das ist schön.«
    »Ja, das ist schön – mir gefällt es auch.« Er kaute wieder an den Fingernägeln.
    Sie musste versuchen, seine Nervosität in den Griff zu bekommen. Doch im Moment war sie angespannter als er. Ihr Mund war trocken. Gott, sie könnte einen starken Drink vertragen.
    »Wollen Sie nicht wissen, wie mir das gelungen ist?«
    »Natürlich, erzählen Sie es mir bitte«, krächzte sie.
    »Sie hatten unrecht. Mein Vater war kein Sadist.«
    »Nein, das war er nicht«, bestätigte sie.
    »Er hat es nicht gemocht, mich mit dem Bügeleisen am ganzen Körper zu verbrennen. Aber wir beide kennen den Grund, warum er es trotzdem getan hat. Er war krank. Meine Mutter hat ihn dazu gebracht. Nachdem sie mit jedem Kerl in der Stadt gevögelt hat, um ihre Tochter, dieses kleine, dämliche Luder, zu vergessen, hat sie meinem Vater gedroht, ihn zu verlassen, falls ich unartig bin. So war es doch, nicht?«
    »Ihre Mutter …«
    »Aber ich war artig!«, brüllte er. »Und trotzdem hat er mich jede Woche mit der Plastiktüte beinahe erstickt. Dieser großartige Dom-Organist, der ach so gläubig, demütig und ehrfürchtig war. Dieses Vorbild der Kirchengemeinde, das alle wegen seines himmlischen Orgelspiels verehrten. Aber mit mir hat dieser bigotte Hurensohn ein anderes Spiel getrieben. Er hat mir Rätsel aufgetragen. Aufgaben, die ich nie innerhalb der gesetzten Zeit lösen konnte. Ich war zu jung dafür!«
    Tränen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. Bisher hatte er nie darüber gesprochen. Rose konnte sich auch an keine Erwähnung
der Rätsel auf den Tonbändern erinnern, die Carl für sie besprochen hatte.
    »Welche Rätsel?«, fragte sie.
    »Fragespiele …« Er rieb sich die Tränen aus den Augen. Seine Pupillen glänzten. »Wer komponierte die fünf wichtigsten Pastoralmessen ? Aus wie vielen Takten besteht Bachs Weihnachtsoratorium ? Wie lautet die korrekte Abfolge einer bestimmten Liturgie? Während mein Vater spielte, hatte ich Zeit, die Antwort zu finden. Aber hat ein Zehnjähriger die Chance, so etwas innerhalb von vierzig Minuten rauszufinden? Unwissen wurde mit Bosheit gleichgesetzt. Manchmal höre ich seine bohrenden Fragen immer noch, seine unlösbaren Aufgaben, den Tadel, die Vorwürfe und seelischen Quälereien! ›Dunkel war’s, der Mond schien helle …‹« Er presste sich die Hände an die Ohren.
    Rose erinnerte sich, dass Carl auf den Tonbändern ein bestimmtes Gedicht erwähnt hatte, das sein Vater während der Züchtigung ständig wiederholt habe.
    »Um welches Gedicht handelte es sich?«
    »Es waren Dutzende Reime.« Er presste die Augen zu, woraufhin seine Stimme in einen monotonen Singsang verfiel. »›Wenn sie ihre Suppe essen, und das Brot auch nicht vergessen, wenn sie, ohne Lärm zu machen, still sind bei den Siebensachen, beim Spazierengehen auf den Gassen, sich von Mama führen lassen …‹«
    »Carl!«, unterbrach sie ihn.
    Er öffnete die Augen. »Von einem Gedicht habe ich bis heute nicht den Sinn begriffen. ›Dunkel war’s …‹ Verdammt, ich krieg die Welt nicht rund.«
    »Carl! Sie sagten, Sie hätten einen Weg gefunden, das Trauma zu

Weitere Kostenlose Bücher