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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Marmoreule geguckt. Zuletzt hatte sie seine Kleidung durchwühlt. Keine Fotos, keine Telefonnummern. Kein einziges Indiz, dass er eine Beziehung mit Anne Lehner führte, oder auch nur der kleinste Hinweis auf eine andere Frau. Diesmal kam sie jedoch nicht in die Schublade und den Rollcontainer seines Schreibtisches. Frank hatte seine Aktentasche und damit den Schlüssel mit ins Büro genommen.
    Die antike Standuhr schlug halb neun. In dreißig Minuten kam ihr erster Klient. Vielleicht sollte sie das Pferd von der anderen Seite aufzäumen und bei Anne Lehner zu suchen beginnen?
    Helen verließ das Arbeitszimmer ihres Mannes und ging durch den Wintergarten in ihre Praxis. Neben dem Therapieraum lag ihr Büro. Gestern hatte sie sich Annes Stammdatenblatt angesehen, jetzt wollte sie einen Blick in die Protokolle und Mitschriften werfen.
    Sie schlug die Mappe auf ihrem Schreibtisch auf und suchte nach Hinweisen. Anne Lehner war zunächst bei einer Logotherapeutin gewesen, die ihre Praxis in der Bachallee hatte, jener Straße, in der Anne wohnte. Doch sie war mit der Frau nicht klargekommen. Daher hatte sie nach Alternativen gesucht und war auf Helen gestoßen. Die Therapie dauerte bereits sechs Monate mit insgesamt fünfzehn Sitzungen.

    Anne arbeitete als Verkäuferin in der Apotheke Zum heiligen Ulrich. Sie war eine introvertierte, verkorkste und etwas vergrämte Frau, die mit wenig Liebe und Zuneigung aufgewachsen war. Vielleicht lag es an ihrem katholischen Elternhaus. Eine Arbeitskollegin hatte sie dazu überredet, Mitglied in einer Internet-Partnerbörse zu werden. Dort lernte sie ihre Männer kennen. Doch keine der Beziehungen dauerte länger als zwei Monate. Meist waren es verheiratete Männer, die ein Abenteuer mit einer naiven Frau suchten.
    Hast du dort auch meinen Mann kennengelernt?
    Helen schloss für einen Moment die Augen. Auf Franks Kreditkartenabrechnung des letzten halben Jahres hatte sie keine Mitgliedsbeiträge für eine Partnerbörse entdeckt. Vielleicht waren sich die beiden in ihrer Praxis begegnet? Unmöglich. Anne kam stets am Freitagnachmittag. Zu jener Zeit saß Frank in Einsatzbesprechungen, anschließend ging er in den Golfklub.
    Helen blätterte zur nächsten Mitschrift. Während der Sitzungen war hauptsächlich die Rede davon, dass Anne sich zu älteren Männern hingezogen fühlte. Sucht Geborgenheit; Elektrakomplex, hatte Helen notiert. Beim weiblichen Gegenstück des Ödipuskomplexes hasste eine Frau ihre Mutter und fühlte sich zu ihrem Vater hingezogen. Eine leichtfertige Diagnose, die auf viele Frauen zutreffen konnte. Helen dachte an ihr eigenes Leben … und schon zog sich ihr Herz schmerzvoll zusammen. Ihre Eltern waren vor fünf Jahren beim Landeanflug auf Madeira ums Leben gekommen. Das Fahrwerk hatte geklemmt und die kleine Propellermaschine Feuer gefangen. Beide Piloten und alle acht Passagiere waren verbrannt. Helen hatte in den Nachrichten von dem Unglück gehört, und ein seltsam taubes Gefühl in ihrem Magen hatte ihr bestätigt, dass sie ihre Eltern nie wiedersehen würde. Erst zwei Tage später war die offizielle Nachricht von der österreichischen Botschaft in Lissabon bei ihr eingetroffen. Helen war in ein tiefes Loch gestürzt und hatte Wochen gebraucht, um den Tod ihrer Eltern zu realisieren. Merkwürdigerweise hatte sie um ihren Vater mehr getrauert als um ihre Mutter.

    Monate nach dem Unglück hatte sie ihre Wohnung in Wien aufgegeben und war nach Grießkirchen zurückgekehrt. Nun lebte sie in dem Haus, das ihr Vater gebaut hatte. Ihr Ehemann war vierzehn Jahre älter als sie. Nichts Ungewöhnliches; der Altersunterschied ihrer Eltern hatte fünfzehn Jahre betragen. Möglicherweise wollte sie unbewusst diese Beziehung kopieren.
    Eine Träne fiel auf ihre Mitschrift. Sie wischte sie weg. Konzentriere dich auf Anne Lehner! In der Therapie hatte sie versucht, Annes Selbstwertgefühl zu steigern und ihr die Gewissheit zu geben, eine interessante und attraktive Frau zu sein. In einer der letzten Sitzungen sprach Anne sogar darüber, dass sie seit kurzem ein kompliziertes Verhältnis zu einem älteren, verheirateten Mann habe.
    Frank!
    Helen ballte die Hand zur Faust. Falls ihr Verdacht stimmte… sie unterdrückte den Gedanken. Was war Anne bloß für eine Missgeburt? Sie kam zu ihr in Therapie und schlief nebenbei mit ihrem Mann. Doch nun hatte ihr jemand zwei Finger abgetrennt. Wer? Ein verflossener Liebhaber? Jemand, dem sie in der Apotheke die falschen Medikamente

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