Todesfrist
Kopf ins Tintenfass, tunkt sie der große Nikolaus, fiel ihr nun selbst der Reim aus dem Bilderbuch ein. In dieser Geschichte tauchte der Nikolaus drei Knaben in ein großes Fass und färbte sie schwarz ein, weil sie einen pechrabenschwarzen Mohr ausgelacht und geärgert hatten.
»Hat Ihre Mutter je dunkelhäutige Schüler diskriminiert?«, hakte Sneijder nach.
»Niemals.« Sabine schüttelte den Kopf. »Aber sie hätte freiwillig keine Brezel gegessen. Wäre sie mit Öl oder brackigem Abwasser ertränkt worden, wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, dass der Mörder eine Szene aus dem Bilderbuch nachstellt. Warum geht er so grausam vor? Erregen ihn Schmerz und Leid anderer?«
Sneijder schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Er ist kein Sexualtriebtäter. Nichts deutet darauf hin. Er ist höchstens dreißig Jahre alt, alleinstehend, introvertiert, wohnt möglicherweise noch bei seiner Mutter in der Umgebung von Köln, wo er sich für sein erstes Opfer entschieden hat, und – das Wichtigste – er hasst Frauen.«
Sabine legte das Foto beiseite. »Hat ihn seine Freundin betrogen, gedemütigt oder verlassen?«
»Wenn wir tatsächlich von einem Trauma ausgehen, finden wir es in seiner frühen Kindheit – lange bevor er seine erste Freundin hatte. Höchstwahrscheinlich in einer strengen Erziehung.«
»Eine harte Kindheit ist doch nicht für diese Morde verantwortlich«, widersprach sie. »Dann liefen noch mehr verrückte Killer herum.«
»Täter-Introjektion«, antwortete Sneijder, als erklärte dies alles. Er setzte sich wieder auf den Tisch. »Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man ein Kindheitstrauma bewältigt. Entweder man macht sich selbst fertig und redet sich jahrelang ein, dass die Eltern recht hatten, wenn sie zuschlugen, weil man so schlecht war. Oder man lässt zu, dass die Erziehung Teil von einem wird, übernimmt die Gewohnheiten der prügelnden und quälenden Eltern und lebt sie selbst aus.«
»Die Mutter dieses Mistkerls hat ihn wohl kaum angezündet, gebissen oder gezwungen, Tinte zu trinken.« Sabine blickte zur Decke und bekämpfte die aufsteigenden Tränen. »Das ist mir zu abstrakt.«
»Verständlich. Wie soll man die Gedankengänge eines kranken Gehirns nachvollziehen, ohne selbst verrückt zu werden?«
Sabine sah aus dem Fenster. Die Sonne stieg hinter den Domtürmen auf. Da öffnete sich die Bürotür. Simon stand mit einer schweren Umhängetasche im Gang. Überrascht musterte er Sneijder. »Sie hier? Stören Sie die Pflanzen nicht beim Denken?«
Sneijder sah ihn mit einem kalten Blick an. »Nein, aber Ihre Anwesenheit raubt mir den Sauerstoff.«
Mir auch, dachte Sabine. Ich habe dich gestern mit deiner Frau und deinen beiden Kindern gesehen!
»Kein Problem, bin gleich weg. Bine, die Tankstelle wartet.«
Sneijder deutete nach oben. »Haben Sie mir eine Kanne Vanilletee ins Büro gestellt?«
»Die können Sie sich selbst holen. Ich muss weg.«
»Was man nie anfängt, braucht man auch nie zu tun.« Sneijder blickte auf seine dünne Swatch. »Wir haben noch fünf Minuten zu reden. Machen Sie sich inzwischen nützlich, kochen Sie Tee … und jetzt raus hier!«
Simon verdrehte die Augen und schloss die Tür. Sneijder wandte sich Sabine zu, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Unser Täter besitzt ein unerhörtes Geschick darin, Kontrolle über seine Opfer zu erlangen.«
Er zog einen Stuhl heran, setzte sich verkehrt herum darauf und stützte die Arme auf die Lehne. Die saloppe Haltung passte nicht zu ihm, doch offenbar scherte er sich im Moment nicht um ein elegantes Erscheinungsbild.
Er blickte Sabine über den Schreibtisch hinweg an. »Er wird nur dann zuschlagen, wenn er sicher ist, dass er die Oberhand behält. Darum sucht er nach der Schwachstelle seines Opfers. Er kennt kein Gefühl wie Reue. Ein funktionierendes Gewissen würde ihn bremsen. Aber für ihn gibt es keine Grenzen, weder örtliche noch zeitliche. Er fühlt sich unbesiegbar.«
Unbesiegbar! Sabine dachte an das Tintenfass, das ihr Vater vor seiner Wohnungstür gefunden hatte.
»Hat er seinen anderen Telefonopfern auch Geschenke gemacht?«
Sneijder nickte. »Aber es sind keine Geschenke … sondern Hinweise.
In Leipzig eine verbrannte Haarlocke. In Köln ein schwarzes Hundehalsband aus Leder mit dem Namen Gretchen.«
Gretchen hieß die Schwester des bösen Friederich, erinnerte sich Sabine. Aber das hatte Sneijder bestimmt schon herausgefunden.
»Es geht um Macht und Kontrolle«, wiederholte
Weitere Kostenlose Bücher