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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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pochen. Offensichtlich hatte sie seinen wunden Punkt getroffen.
    »Waren Sie unartig?«
    Seine Stimme wurde eine Spur lauter. »Hätte Vater sonst einen Fünfjährigen mit dem Bügeleisen verbrannt?«
    Rose dachte an die Brandwunden auf seinen Unterarmen. Falls die Behauptungen auf den Tonbändern stimmten, war sein Körper von Spuren weiterer Misshandlungen übersät. Sie stellte sich vor, wie sein ganzer Körper verunstaltet war. Gerade jetzt, als schwangere Frau, war ihr unbegreiflich, wie jemand sein eigenes Kind derart quälen konnte.

    »Kinder versuchen zu verstehen, warum ihre Eltern sie misshandeln«, erklärte Rose. »Instinktiv suchen sie die Schuld bei sich. Schon oft habe ich folgenden Satz von meinen Klienten gehört: ›An mir muss etwas Schlechtes sein, sonst würde mich mein Vater nicht schlagen.‹«
    Carls Stimme wurde leise. »Ich bin meinem Vater dankbar für seine Erziehung.«
    »Tatsächlich? Inwiefern?«
    »Ist eine strenge Erziehung nicht besser als gar keine?«
    Auch wenn das Resultat Drogenmissbrauch und drei Jahre bedingte Strafe lauten? »Glauben Sie, dass Ihre Mutter von der Erziehung durch Ihren Vater wusste?«, fragte Rose.
    »Sie war nie zu Hause.«
    »Wo war sie, wenn Ihr Vater zu den Erziehungsmaßnahmen griff?«
    »Ich sagte ja schon: Sie hatte oft Nacht- und Wochenenddienste.«
    »Glauben Sie, dass es Ihren Vater erregt hat, als er Ihnen Schmerzen zufügte?«
    Carls Blick wanderte unruhig zur Uhr und zurück. »Erregt? Wie meinen Sie das?«
    »War eine sexuelle Komponente im Spiel?«
    Carls Augen wurden groß. »Bitte?«
    Aus Erfahrung wusste sie, dass bei echten Emotionen immer zuerst der Körper reagierte und danach die Worte folgten. Carls Entrüstung war also nicht gespielt.
    »Manchmal kommt es bei Kindesmisshandlung vor, dass …«
    »Es war keine Misshandlung! Wie das klingt!« Seine Stimme bebte. »Vater musste mich erziehen, so wie andere Jungs auch erzogen wurden.«
    »Natürlich.« Rose schluckte. »Sehen Sie, ein Kind sieht vieles mit anderen Augen. Dinge, die es nicht begreifen kann, versucht es vor sich selbst zu rechtfertigen. Ich behaupte nicht, dass das bei Ihnen zutrifft, aber manche Kinder denken von sich, dass sie ekelerregend,
böse und krank seien und perverse Gedanken hätten. Sie verdienen, was sie bekommen.«
    »So war es nicht«, widersprach er.
    »In Ihren Augen war Ihr Vater also kein Sadist?«
    Er kaute an den Fingernägeln. »Natürlich nicht. Er war sehr gläubig und legte wert auf Disziplin. Glauben Sie etwa, die Erziehung hat ihm Spaß gemacht?«
    Rose war sich da nicht sicher. Allerdings lagen ihr weder vom Gericht noch vom Jugendamt Beweise vor – zumindest über jene Zeitspanne, in der Carl in Österreich gelebt hatte. Sie kannte nur Carls Aussagen auf den Tonbändern. Demnach hatte ihn sein Vater bereits als Fünfjährigen zwei- bis dreimal pro Woche mit einer Plastiktüte beinahe zum Ersticken gebracht. Später hatte er ihn mit einer brennenden Kerze oder den Glasscherben einer Weihwasserphiole malträtiert und fast täglich geschlagen – egal ob er krank war, Fieber hatte oder nicht. Dagegen waren die Krämpfe in ihrem Unterleib, die sie seit Tagen quälten, sodass sie an manchen Abenden nicht einmal aufrecht stehen konnte, ein Kinkerlitzchen.
    Erst mit dem Tod seines Vaters hatten die Schläge geendet. Aber in Carls Kopf tat er es immer noch. Das Resultat war ein Mangel an Selbstachtung, der ihn sein Leben lang begleiten würde. Möglicherweise hätte das letzte Gespräch kurz vor dem Herzversagen seines Vaters etwas daran ändern können – doch Carl hatte nie erfahren, was ihm sein Vater vor drei Jahren am Sterbebett mitteilen wollte.
    »Wann genau hat Ihr Vater Sie erzogen?« Eigentlich vermutete Rose, dass er stets dann zugeschlagen hatte, wenn er betrunken oder depressiv war oder wenn Carl nicht gehorchte, doch Carls Antwort fiel anders aus.
    »Immer eine Stunde, bevor Mutter heimkam. Er hat mich dann auch immer gleich verarztet.«
    Rose schluckte. Für einen Augenblick konnte sie sich in den sieben-, zehn- oder vierzehnjährigen Carl hineinversetzen. Was
für ein Gefühl musste es sein, jedes Mal, wenn Mutter das Haus verließ, zu wissen, sie würde in ein oder zwei Stunden oder erst am nächsten Morgen wiederkommen? Wenn Vater sich näherte und nach dem kleinen Carl rief? Soviel sie im Moment über seine Kindheit wusste, lag kein Fall von sexuellem Missbrauch vor. Nur körperliche Züchtigung! Carls Vater war möglicherweise

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