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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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sich deswegen ans Gericht wenden müssen. Da er ihr aber regelmäßig Tonbänder in den Briefkasten gesteckt hatte, merkte sie, dass er an sich arbeitete. Diese Zeit wollte sie ihm geben.
    Allmählich löste sich der Krampf in ihrem Unterleib. Der Schmerz klang ab. Was für ein Gefühl! Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie den nächsten Stich spüren würde. Denk jetzt nicht an das Baby! Konzentrier dich auf die Sitzung!
    Sie deutete auf die fünf Mini-Kassetten, die auf dem Tisch lagen. »Vielen Dank für das interessante Material.«
    Carl tat so, als bemerkte er die Bänder erst jetzt. »Haben Sie sich das überhaupt angehört? Ich weiß gar nicht mehr, was ich draufgesprochen habe.«
    Bestimmt weißt du das noch. Jedes einzelne Wort.
    Aber Carls Lüge spielte keine Rolle. Er hatte sich emotional geöffnet, zum ersten Mal über seine Kindheit gesprochen und hilfreiches Material zu Tage gefördert.
    »Können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie das erste Band besprochen haben?«
    »Ich hatte einen Albtraum und das Gerät kurz darauf mit irgendwas vollgequatscht, bevor ich zur Arbeit gegangen bin.«
    Der Redefluss auf der ersten Kassette war noch sehr zögerlich gewesen. Die hallende Stimme ließ darauf schließen, dass Carl die Aufnahme im Badezimmer gemacht hatte. Möglicherweise vor dem Spiegel über dem Handwaschbecken. Das würde auch erklären, weshalb er sich selbst in der zweiten Person angesprochen hatte. Du dreckiger Nichtsnutz! Auf den anderen Bändern waren seine Sätze schneller und flüssiger, als hätte er sich daran gewöhnt,
seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Aber selbst da sprach er in der Du-Form über sich.
    Ein zweckloser Versuch, den Inhalt der Bänder als Belanglosigkeit abzutun. Sein Drang zu reden war offensichtlich. Andernfalls hätte er sich kaum die Mühe gemacht, vier weitere Kassetten zu kaufen.
    »Hielten die Träume an?«
    »Fast jede Nacht.«
    »Träume können hilfreich sein«, erklärte sie. »Sie zeigen, dass sich Ihr Unterbewusstsein mit Dingen beschäftigt, die Sie lange verdrängt haben.« Sie schob die Kassetten über den Tisch zu ihm. »Vielen Dank noch mal.«
    Er sah sie erstaunt an. »Die gehören Ihnen.«
    »Nur eine. Aber es ist Ihr Material. Nehmen Sie es …«
    »Sie haben mir die fünf Kassetten gegeben. Ich brauche sie nicht.«
    Rose betrachtete ihn. Seiner Miene nach zu urteilen glaubte er tatsächlich, was er sagte. Möglicherweise wollte er die erlösende Wirkung des Selbstgesprächs nicht wahrhaben. Hatte er den Kauf der Kassetten verdrängt, um sich selbst einzureden, er müsse die fünf Bänder für Rose besprechen? Sie beließ es dabei. »Ich würde mit Ihnen gern über den Inhalt reden.«
    »Wozu? Sie haben das Zeug ja gehört.«
    Rose nickte. »Wir können auch über etwas reden, das auf den Kassetten nicht erwähnt wird. Zum Beispiel Ihre Schulzeit.«
    Carl zuckte mit den Achseln. Offensichtlich war dieses Thema für ihn akzeptabel.
    »Von unseren letzten Sitzungen weiß ich, dass Sie oft umgezogen sind.« Rose blätterte in ihren Mitschriften. »Nach der Kindergartenzeit in Wien absolvierten Sie die Grundschule in Köln, die Hauptschule in Leipzig und Ihre Automechanikerlehre in Dresden. Wie fühlten Sie sich, als Sie aus Ihrer gewohnten Umgebung gerissen wurden?«
    Er blickte zur Zimmerdecke und runzelte die Stirn, als läge die
Erinnerung an diese Ereignisse tief verschüttet. »Ich weiß nicht … hab nie darüber nachgedacht. Wir mussten übersiedeln – Mutter und ich wurden nicht gefragt, ob wir wollten. Alle paar Jahre nahm Vater eine neue Stellung als Organist an. Er spielte während der Messen im Dom.«
    »Und Ihre Mutter?«
    »Was blieb ihr übrig? Sie suchte sich ebenfalls einen neuen Job.«
    »War das schwierig?«
    »Sie hat eine gute Ausbildung als Krankenschwester, und für Nachtschichten wurde immer jemand gesucht.«
    »Welche Rolle spielte Ihre Mutter in Ihrer Kindheit?«
    »Keine.«
    »Wurden Sie auch von ihr geschlagen?«
    »Nie.«
    »Gerade als Krankenschwester … wie hat sie auf die Blutergüsse und Brandwunden auf Ihrer Brust und den Armen reagiert?«
    »Gar nicht. Ich habe sie vor ihr versteckt.«
    »Warum?«
    Er zuckte wieder mit den Achseln. »Hätte Mutter sie bemerkt, wäre ihr wohl klar geworden, dass ich unartig war.«
    »Und das hätte weitere Konsequenzen nach sich gezogen?«, fragte Rose. »Waren Sie denn tatsächlich unartig?«
    Er funkelte sie einen Moment lang an. Seine Halsschlagadern begannen zu

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