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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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inne. Jedem erging es ähnlich bei der ersten Trancesitzung. Vermutlich musste er sich erst an den Klang seiner Stimme gewöhnen.

    »Ich bin in meinem Zimmer.«
    »Blicken Sie aus dem Fenster. Was sehen Sie?«
    »Draußen ist es dunkel. Ich sehe die Spitzen des Kölner Doms. Die beiden Türme wirken wie ein Knochengerippe aus Asche. Alles ist noch so fremd. Wir wohnen erst seit Kurzem in dieser Stadt.«
    »Was machen Sie in Ihrem Kinderzimmer?«
    »Ich stehe hinter der Tür. Sie ist einen Spaltbreit offen. Ich lausche.«
    »Was hören Sie?«
    »Vater und Mutter – sie flüstern aufgeregt. Dann rufen sie mich. Ich weiß, was als Nächstes passieren wird. Trotzdem tue ich so, als wäre ich überrascht.«
    »Worüber?«
    »Auf dem Wohnzimmertisch steht eine Torte. Es ist dunkel, nur die sieben Kerzen brennen und die Lebenskerze in der Mitte. Mutter hält einen Sternspucker in der Hand. Es riecht wie an Weihnachten. Vater legt mir die Hand auf die Schulter und spricht. ›Alles Gute zum Geburtstag. Nun wird alles gut, mein Sohn.‹«
    Rose notierte den letzten Satz. »Wissen Sie, was er damit meint?«
    Carl schüttelte den Kopf.
    »Was macht Ihre Mutter?«
    »Der Sternspucker brennt aus. Sie nimmt mich in die Arme, drückt mich an sich, streicht mir übers Haar und sagt, ich soll doch immer ein braver, guter Junge sein.«
    »Sind Sie das?«
    »In diesem Moment schon. Ich gehe langsam zum Tisch und spähe hinauf, um die Geschenke näher zu betrachten. Vater möchte nicht, dass ich laufe. Ich nehme das erste Paket herunter und löse vorsichtig Schleife und Papier.«
    »Möchte Ihr Vater nicht, dass Sie das Papier einfach herunterreißen?«
    »Nein.«
    »Was ist in dem Paket?«

    »Ein Bilderbuch. Vater sagt, ich soll darauf achten, dass keine Schokolade aufs Papier kleckert und sich keine Seiten lösen.«
    »Welches Buch?«
    »Die kleine Hexe. In den anderen Paketen sind andere Bilderbücher, eine Ritterburg mit Plastikfiguren, Buntstifte, ein Zeichenblock, Schal und Wollhandschuhe für den Winter und eine gelbe Schirmkappe – für nächstes Jahr gegen die Sonne.«
    »Kein Fußball oder Frisbee? Keine Rollschuhe?«
    Carl schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. »Zu gefährlich.«
    Rose notierte sich weitere Gedanken. »Was passiert dann?«
    »Meine Tante Lore kommt zu Besuch, die Schwester meines Vaters. Sie ist extra mit dem Zug aus Dresden angereist und wird für ein paar Tage bei uns bleiben.«
    »Extra?«, wiederholte Rose. »Wegen Ihres Geburtstags?«
    »Das hat sie gesagt.«
    »Was vermuten Sie?«
    »Ich weiß nicht. Sie trinken Kaffee und essen Nusstorte. Während ich mit den Rittern spiele, reden meine Eltern darüber, dass sie hier als Familie von vorne beginnen wollen.«
    »Warum? Was ist in Wien vorgefallen?«
    Carl runzelte die Stirn. »Da war dieser Mann, mehr weiß ich nicht.«
    Dieser Mann!
    Das war es! Rose legte den Stift beiseite. »Worüber unterhalten sich Ihre Eltern noch?«
    »Die Frauen reden in der Küche weiter. Vater setzt sich zu mir auf den Boden, und wir blättern im Bilderbuch. Er erklärt mir, wer die kleine Hexe ist, und erzählt mir von ihrem Raben Abraxas.«
    »Warum erinnern Sie sich so gern an diesen Geburtstag?«
    »Weil mich Vater an diesem Tag nicht geschlagen hat.«
    Roses Mund wurde trocken. »Waren Sie an diesem Tag artig?«
    Carl nickte.

    »Hatten Sie als Junge oft aufgeschürfte Knie vom Fußballspielen auf der Straße, schmutzige T-Shirts oder ölverschmierte Hände, weil sich die Kette im Fahrrad verkeilt hat?«
    »Ich hatte kein Fahrrad.«
    »Erzählen Sie weiter. Was passierte noch an diesem Abend?«
    Carl kniff die Augen zusammen. »Nichts mehr.«
    »Wie endet der Tag?«, hakte Rose nach.
    »Vater hat mir aus dem Buch vorgelesen.«
    »Und dann?«
    »War er weg.«
    »Wohin ist er verschwunden? Hat er die Wohnung verlassen?«
    Carl runzelte die Stirn. »Ich denke, er ist in die Küche gegangen.«
    Ihr Puls beschleunigte. »War er dort allein?«
    »Ich … ich habe keine Ahnung!«
    »Was wäre, wenn Sie es wüssten?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Sie wissen es«, drängte Rose sanft. Instinktiv ahnte sie, dass Carl nicht zufällig diesen Tag ausgesucht hatte. Möglicherweise wollte sein Unterbewusstsein ihr etwas mitteilen, wogegen er sich jetzt sträubte.
    »Sie wissen es! Wer war noch in der Küche? Ihre Mutter? Ihre Tante?«
    Carl legte den Kopf zur Seite. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. »Ja, vielleicht …«
    »War Ihr Vater zornig?«
    »Er

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