Todesfrist
Gras rauche«, antwortete sie sarkastisch.
Er ignorierte ihren Seitenhieb. »Carl wurde am 6. November geboren, und sein Vater starb am 20. Dezember. Geburt und Tod. Scheinen zwei denkwürdige Tage zu sein«, sinnierte Sneijder. »Es ist, als hätte ich eine Lösung, aber sie passt nicht zu meinem Problem.«
»Was war Carls Vater von Beruf?«, fragte sie.
Er sah sie mit einem abwesenden Blick an, als hätte sie ihn mit ihrer Frage aus weiter Ferne geholt. »Das erraten Sie nie. Dom-Organist und Spezialist für Bach-Stücke.«
Beim Gedanken daran rieselte ihr ein Schauer über den Rücken. Plötzlich hatte sie wieder das Bild ihrer Mutter vor Augen, mit dem Schlauch im Rachen und dem aufgerissenen Mund, grotesk in der Leichenstarre festgefroren. Sabine erinnerte sich an Sneijders Tonbandaufnahme. »Der Mesner hat ein Stück von Bach gehört, bevor er die Leiche meiner Mutter fand.«
»Zumindest hat er das behauptet. Aber irgendwie ist das alles
noch nicht rund. Kölner und Münchner Dom sind katholische Kirchen, die Thomaskirche in Leipzig ein evangelischer Dom. Es hat etwas mit Bach und Orgelmusik zu tun, aber ich finde keinen vernünftigen Zusammenhang in diesem beschissenen Kirchensystem.«
Sabine zuckte zusammen. Der Begriff Oberpfaffe kam ihr wieder in den Sinn. »Ihre Gotteslästerei nervt«, sagte sie knapp.
Er schüttelte den Kopf. »Wie kann ich über etwas lästern, das gar nicht existiert? Ich glaube weder an Gott noch an den Teufel.«
»An etwas müssen Sie doch glauben.«
»Dass ich eines Tages sterben werde.«
Wie armselig.
»Science flies you to the moon, religion flies you into buildings«, zitierte er einen bekannten Spruch. »Ich glaube an die Wissenschaft, an Psychologie und daran, dass Schilddrüsenkrebs eines Tages heilbar sein wird – aber nicht an die westlichen Religionen.«
Sie fuhren an einer endlosen Reihe riesiger Windräder vorbei. »Buddhismus ist für Sie in Ordnung?«
Er nickte. »Zen-Buddhismus.«
»Haben Sie deshalb eine Glatze?«
Er antwortete nicht. Plötzlich musste sie an die drei ausgestreckten Finger denken, mit denen er seine Mitmenschen demütigte. »Können Sie mir den Unterschied zwischen Zen-Buddhismus und den anderen Religionen in drei einfachen Sätzen erklären?«
Das typische kalte Leichenhallenlächeln huschte über sein Gesicht. »Den kann ich Ihnen sogar in einem Satz erklären: Die westlichen Religionen bauen auf Fremderlösung, die asiatischen auf Selbsterlösung.«
Selbsterlösung! Nicht schlecht! Das passte zu einem Egozentriker wie Sneijder.
»Ich würde gern mit Ihnen über dieses Thema philosophieren,
aber ich muss noch ein paar Gespräche führen, bevor wir nach Dresden kommen.« Er griff zum iPhone.
»Wen rufen Sie an?«
»Ich bringe die Kollegen vom LKA Sachsen ein bisschen in Schwung. Wir brauchen Zutritt zur Wohnung der ollen Tante Lore.«
20
Drei Monate vorher
Die 5. Therapiesitzung
Dr. Rose Harmann schaltete das Tonbandgerät ein. »Dienstag, 24. Februar, 17.00 Uhr. Fünfte Sitzung mit Carl Boni.«
Sie stellte das Gerät auf den Tisch. Dann nippte sie an ihrem Glas. Limettensaft! Der Bio-Drink schmeckte bitter, versorgte sie jedoch mit Vitaminen.
»Sieht ekelhaft aus«, bemerkte Carl.
»Soll aber gesund sein.« Sie beugte sich vor und stellte das Glas ab. Bei dieser Bewegung fuhr ihr wieder dieser verdammte Schmerz durch den Unterleib. Sie schloss für einen Moment die Augen und biss die Zähne zusammen.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Carls Stimme klang tatsächlich besorgt.
»Danke, alles in Ordnung«, log sie. Diese verfluchten Krämpfe wurden von Tag zu Tag schlimmer. Morgen würde sie endlich ihren Gynäkologen aufsuchen. Ohne Termin, aber das war kein Problem. Sie kannte den Mann gut. Er untersuchte auch ihre Mutter. Allerdings würde sie dem Vater des Kindes lieber nichts davon erzählen. Ein Gefühl sagte ihr, dass er wegen der Komplikationen gar nicht so traurig sein würde. Auf diese Anteilnahme konnte sie im Moment gut verzichten.
Sie stützte sich seitlich auf die Armlehne und atmete langsam durch. »Unser letztes Treffen liegt knapp vier Wochen zurück«, stellte sie fest.
»Ich hatte eine Grippe und viel um die Ohren«, rechtfertigte Carl sich. Gelassen ruhte er auf der Couch. Seine Finger waren wieder einmal ölverschmiert. Er betrachtete die Kuppen.
Rose lächelte. »Kein Problem. Schließlich soll die Therapie auf das Leben fokussiert sein und nicht das Leben auf die Therapie.«
Normalerweise hätte sie
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