Todesfrist
und könnte …«
»Anne Lehner hat ihr Kind verloren«, unterbrach er sie erneut. »Vor drei Monaten.«
Was? Helen musste sich zusammenreißen, damit er nicht merkte, dass sie kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. »Das habe ich vermutet«, reagierte sie rasch. »Sie spricht nicht darüber.«
»Sie deuteten an, dass sie das Baby eventuell nicht wollte?«, unterbrach er sie schon wieder.
Helen wurde die Situation unangenehm. Wenn sie sich nicht vorsah, geriet sie in Teufels Küche. Dr. Rachovsky war kein Idiot. Ein unüberlegtes Wort von ihr, und er würde ihre Lügen durchschauen.
»Anne scheint eine verkorkste Auffassung von Sexualität zu haben. Dass sie schwanger wurde, passte nicht in ihr Weltbild.«
»Ich glaube nicht, dass sie das Kind absichtlich verloren hat, falls Sie darauf anspielen«, sagte er. »Im Gegenteil. Sie war kerngesund und freute sich auf ihr Baby. In ihrem Alter war es zwar eine Risikoschwangerschaft, trotzdem kam der Kindsverlust abrupt. Eher ungewöhnlich für eine Schwangerschaft im dritten Monat.« Er hob die Schultern. »Möglicherweise wegen einer falschen Medikamentendosierung…«
Er fixierte sie. »Deshalb fragte ich vorhin, ob sie medikamentös eingestellt sei.«
Helens Gedanken überschlugen sich. Eine falsche Medikamentendosierung! Soviel sie wusste, nahm Anne keine Medikamente. Plötzlich dachte sie an die Flasche in Franks Rollcontainer. »Könnte eine hochkonzentrierte Antibiotikum-Infusionslösung für den Verlust des Kindes verantwortlich sein?«
»Möglich. Anne hätte immerhin Zugang dazu, aber wie gesagt – das glaube ich nicht. Sie wäre eine gute Mutter gewesen.«
Rachovsky hatte recht. Als Apothekengehilfin hätte sich Anne ziemlich leicht ein starkes Antibiotikum besorgen können. Doch Helen verdächtigte jemand anders, den sie verdammt gut kannte. Oder zumindest geglaubt hatte zu kennen. Hätte Frank Anne ohne deren Wissen die Lösung verabreichen können, um das Kind abzutreiben? Wäre er tatsächlich zu diesem grausamen Verbrechen fähig? Der Gedanke war ungeheuerlich. Andererseits wollte er keine Kinder haben. Bei der Höhe seines Gehalts wären die Unterhaltszahlungen kein Problem gewesen. Doch ein uneheliches Kind hätte einen Skandal ausgelöst – und die Vaterrolle seiner Karriere im Weg gestanden.
Nein, sie verdrängte diesen absurden Gedanken. Frank wäre nicht dazu fähig. Sein schlechtes Gewissen hätte ihn völlig zermürbt. Aber vielleicht hat er Anne gerade deshalb den Rubinring geschenkt? Der Kauf war am 6. März erfolgt, also vor zweieinhalb Monaten. Der Zeitrahmen passte. Ihr Mann – ein Kindesmörder?
Helen konnte das alles nicht glauben. Sie musste raus hier und frische Luft schnappen.
»Frau Kollegin?«, brummte Rachovsky. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Wie bitte?« Sie starrte ihn an. »Darf ich ein Glas Wasser haben?«
»Selbstverständlich.« Er brachte ihr ein Glas.
Sie stürzte das kalte Wasser in einem Zug runter. »Warum waren Sie vorhin erstaunt, dass Anne in Therapie ist?«
Er lächelte. »Immerhin ist sie selbst Ärztin.«
Nein, nicht Ärztin! Apothekenge… Helen spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. In diesem Moment musste sie so weiß wie die Wand sein. »Ärztin?«, wiederholte sie.
»Soviel ich weiß, hat sie Medizin studiert«, murmelte Rachovsky. »Mich wundert, dass sie in psychiatrischer Behandlung ist und Antidepressiva nehmen sollte. Natürlich war sie wegen des Verlustes niedergeschlagen. Doch sie ist eine starke, selbstbewusste und ausgeglichene Frau.«
Alles begann sich um Helen zu drehen. Anne Lehner war eine graue Maus, unscheinbar, schüchtern, sexuell gehemmt, krebskrank und ständig in gebückter, demütiger Haltung. Mit der dicken Hornbrille und dem grauen Haarersatz sah sie alt und zerbrechlich aus.
»Wie würden Sie Anne optisch beschreiben?«, hakte sie nach.
»Mein Gott.« Er hob die Arme. »Kastanienrote, kurze Haare, flotte Frisur, dunkelgrüne Augen, gebräunte Haut, sportlich und sehr sexy. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Sie hat sich mir anders präsentiert«, murmelte Helen.
»Den Eindruck habe ich auch.« Rachovsky rückte vor. »Vor allem, als Sie Anne zu Beginn als fünfundvierzigjährige Patientin beschrieben. Ich weiß jedoch, dass sie erst vierzig Jahre alt ist. Anne-Rose sieht Ihnen sogar etwas ähnlich.«
Helen zuckte zusammen. »Wie bitte?«
»Ich sagte, sie sieht Ihnen sogar …«, wiederholte er.
»Nein, ich meine …«, stammelte sie.
Weitere Kostenlose Bücher