Todesfrist
»Sagten Sie Anne-Rose?«
»Ja, so lautet ihr vollständiger Vorname.«
22
Coschütz war eine ländliche Gegend mit zahlreichen liebevoll gestalteten Fachwerkhäusern mit rotbraunen Fensterläden und vermoosten Dachschindeln. Die Telegrafenleitungen hingen in tiefen Bögen von einem Haus zum nächsten, als schmölzen sie in der Nachmittagssonne dahin und würden von Jahr zu Jahr länger. Der Riegelbau am Ende der Hauptstraße aus braunen Holzbalken und lehmfarbenen Ziegeln passte zu dem Bild, das der südliche Stadtteil Dresdens vermittelte.
Ein junger Kollege von der Dresdner Kripo mit feuerrotem Haar und Sommersprossen öffnete die Tür im zweiten Stock des Fachwerkhauses. Familie Vollmahr stand auf dem Schuhabstreifer. Hier also wohnte »die olle Tante Lore«.
Sneijder klappte seinen Ausweis auf. »Fallanalytiker und forensischer Psychologe«, murmelte er, ohne den Kollegen anzusehen.
»Ich habe auf Sie gewartet.« Der Beamte trat zur Seite und betrachtete den Ausweis. »Ah, Maarten Sneijder, schon von Ihnen gehört.« Es klang ein wenig ironisch.
»Maarten S. Sneijder!«, korrigierte Sneijder ihn mit seiner üblichen Arroganz und schob sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Und kommen Sie wieder aus meinem Hintern raus.«
Oh Gott. Sabine wäre am liebsten im Erdboden versunken. Der Kollege warf ihr einen Blick zu, dessen Beschreibung ganze Bände gefüllt hätte. Mit der Umhängetasche folgte sie Sneijder. In den Räumen herrschte eine nach Tod und Vergänglichkeit miefende Luft. Die Pflanzen hingen verwelkt aus den Töpfen. Dunkle, wuchtige Kommoden, Lampenschirme mit Quasten, schwere Vorhänge, dicke Teppiche und düstere Ölgemälde an den Wänden. Die Zimmer wirkten wie verwahrloste DDR-Relikte aus den Siebzigerjahren.
Nachdem Sneijder sich umgesehen hatte, winkte er den Beamten zu sich und hielt drei Finger hoch.
»In drei knappen Sätzen: Was ist hier passiert? Nur das Wichtigste!«
Der Kollege schnappte nach Luft. »Das kann ich nicht.«
»Dann lernen Sie es«, sagte Sneijder so ruhig wie möglich. »Es ist eine Kunst, komplexe Dinge einfach darzustellen – umgekehrt kann es jeder. Unsere Zeit ist knapp, also los!«
Der rothaarige Bursche, der Sabine von der ersten Minute an leidtat, stammelte etwas zusammen, bis Sneijder ihm schließlich die Akte aus der Hand nahm und selbst durchblätterte.
Sie erfuhren, dass Lore Vollmahrs Mann am Abend des 6. Mai, einem Freitag, in dieser Wohnung einen Herzinfarkt erlitten hatte. Für den Einundachtzigjährigen, der nach zwei Schlaganfällen halbseitig gelähmt war, bedeutete dies das Todesurteil. Er saß im Schaukelstuhl, und es sah so aus, als wollte er die Rettung anrufen, da der Telefonhörer noch in seiner Hand lag. Am selben Tag verschwand Lore Vollmahr spurlos, nachdem sie zuletzt beim Einkaufen in der Fußgängerzone gesehen worden war.
Sneijder schlug die Akte zu. »Vielleicht war es aber umgekehrt?«, sinnierte er, während er durch die Wohnung ging. »Seine Frau verschwand, und erst danach starb er an Herzversagen.«
Sabine ahnte, worauf er hinauswollte. »Wir brauchen die Liste mit den Telefonaten.«
»Genau.« Sneijder blätterte noch mal in der Akte. »Der letzte Anruf zum Festnetz der Wohnung stammte von einem Wertkartenhandy. Lores Mann wollte nicht die Rettung anrufen, als sein altes Herz versagte, sondern er war angerufen worden, und der Schreck hat ihn das Leben gekostet.«
»Welcher Schreck?«, fragte der Rothaarige.
»Dass seine Frau entführt wurde und er achtundvierzig Stunden Zeit hatte, ihr Leben zu retten«, antwortete Sneijder. »Wurde seither etwas in der Wohnung angefasst oder verändert?«
»Nein.« Der Beamte zuckte mit den Achseln. »Der Tote liegt
immer noch im Leichenschauhaus, seine Frau ist nicht aufgetaucht, und die Stadtverwaltung wartet, bis jemand das Begräbnis veranlasst. Seitdem ist die Wohnung unbenützt.«
Während Sneijder das Schlafzimmer betrat, sah sich Sabine im Bad und auf der Toilette um. Sie suchte nach etwas Ungewöhnlichem, einem Hinweis, den Struwwelpeter seinem Telefonopfer ziemlich sicher hinterlassen hatte. In der Küche fand sie eine kleine Pappschachtel neben der Brotschneidemaschine. Darin lagen Lesebrille und Kaffeelöffel auf einer roten Samtunterlage.
»Sneijder!«, rief sie.
Der Ermittler kam in die Küche und sah das Präsent sofort. »Die gleiche Schachtel wie in Köln und Leipzig.« Er winkte den Beamten her. »Veranlassen Sie, dass Fingerabdrücke von dieser Schachtel genommen
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