Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
man da in den Verdacht der persönlichen Vorteilsnahme zumindest aber in den des Sittenverfalls, aber jeder in der Kleinstadt kannte mindestens eine Person, die solch einen denkwürdigen Abend bereits einmal miterlebt hatte. In Bärlingen kursierten mittlerweile die wildesten Geschichten. Dass diese Einladungen regelmäßig in weinseliger Partylaune endeten, welche die Leute auf den Tischen tanzen ließ, das hatte nicht selten zu vorgerückter Stunde schon den einen oder anderen Zaungast vor das Venezia gelockt, um wenigstens von außen etwas von dem dolce vita der Festgesellschaft zu erhaschen.
Die erste Nummer war überstanden, Georg atmete auf. Wie er es von den Konzerten gewohnt war, zu denen er seine Mutter immer begleitete, hatte er andächtig dem Vortrag gelauscht. Er war sicher kein Experte auf dem Gebiet der Klassik und im Gegensatz zu seiner Mutter, die lange Jahre in der Bärlinger Kantorei gesungen hatte, hielt er sich mit Beurteilungen von Musikern gern zurüc k, aber in diesem Fall war die Freude an der musikalischen Darbietung recht einseitig. Der Hauptkommissar schaute sich während des Beifalls um und sah, dass die Bärlinger sich mit einem Anerkennungsapplaus begnügten, während bei der italienischen Fraktion der Zuhörer echte Begeisterung zu herrschen schien. Da hatte die Sängerin wohl eine treue Fangemeinde mobilisiert oder der Italo-Opernschmachtfetzen, den sie gerade zum Besten gegeben hatte, sprach den Exil-Italienern aus der Seele. Georg wunderte sich. Was er in den Gesichtern der Italiener sah, waren echte Emotionen. Da wischte sich der eine oder andere gestandene Mann sogar ein Tränchen aus dem Auge und es wurden bereits „Bravo“-Rufe hörbar. Wo sollte dieser Abend nur enden? Georg nahm einen großen Schluck aus seinem Glas; Wein, Weib und Gesang hatte er sich irgendwie immer anders vorgestellt. Zumindest im Weinkonsum standen sich die zwei unterschiedlichen Zuhörerschaften in nichts nach und das Personal des Venezias sorgte aufmerksam dafür, dass die Flaschen nicht leer wurden.
Otto sparte sich den Blick auf das Programmheft, das auf jedem Tisch ausgelegt war. Er verstand sowieso kein Italienisch und er hatte auch keine Lust, den abgedruckten Text zu verfolgen. Er war zum Vergnügen hier und zur kulinarischen Fortbildung. Die mediterrane Küche hatte ihn schon immer angesprochen und er hoffte auf Anregungen und vielleicht auf ein paar Rezepte, die er dem Koch eventuell abluchsen konnte. Der Gesang war für ihn Beiwerk und insgeheim wünschte er sich, an einem der Italiener-Tische zu sitzen, wo man nicht stocksteif dem Gesang lauschte, sondern wo die Unterhaltung munter weiterging, zwar mit gedämpfter Lautstärke aber nicht weniger lebhaft. Für Ottos Tischgenossen schien die Veranstaltung hier eine ernste Sache zu sein, denn jeder hörte den Bemühungen der Gastronomen-Gattin andächtig zu. Diese ließ auch theatralisch nichts unversucht, um ihre Zuhörer in ihren Bann zu ziehen. Gerade kam sie direkt auf Ottos Tisch zu und streckte die Hände flehentlich nach ihm aus. Hatte er da irgendetwas verpasst? Jetzt ging sie auch noch in die Knie und sang ihn sehnsuchtsvoll an. Otto rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. Es war ihm gar nicht recht, so in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu gelangen. Er hatte das Gefühl, jeder starrte ihn an und er merkte, wie es ihm ganz heiß wurde.
Gerda, die aufmerksam das Programm studiert hatte, beugte sich zu ihrem Mann herüber und raunte ihm mit einem schadenfrohen Kichern die Übersetzung der Arie ins Ohr. „Held, mein Held bist du. Hast mich errettet aus den Klauen des Todes. Mein Herz gehört auf ewig dir!“ Otto tat so, als ob er sie nicht verstanden habe und war erleichtert, dass das Schmachten auf der Bühne ein Ende und er sich eine Pause verdient hatte.
Der Applaus hatte schon deutlich zugenommen, vielleicht war es aber auch nur die Erleichterung der Zuhörer, dem sehnsüchtig erwarteten Imbiss ein bisschen näher gekommen zu sein. Vor den Preis hatten die Götter der Musik aber auch an diesem Abend den Fleiß gesetzt und der Blick ins Programm ließ Georg seufzen, denn es lagen noch sechs Stücke vor ihnen, die nach jeweils zwei Titeln von kleinen Pausen unterbrochen wurden. Kaum drehte die Künstlerin dem Publikum den Rücken, erstarb der Applaus augenblicklich und die Gespräche der Italiener erfüllten die Gaststube.
In der Bärlinger Ecke wurde nicht viel gesprochen, die meisten
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