Todesgott
sein werden – nützlicher, als dass er hier in der Redaktion den Büroklammerneinkauf und die Mietwagennutzung kontrolliert. Deshalb fahrt ihr ins Nordland, mein Bester.«
»Und in den Abgrund«, ergänzte ich.
Aber ich war nicht sicher, ob ich das wirklich so meinte. Ich war mir über gar nichts mehr sicher. Außer, dass es gesund sein könnte, etwas anderes zu probieren als das, was man vorher probiert hat. Und immer wieder probiert hat.
Ich denke an das, was ich in der Verbannung am meisten vermisse: meine Tochter Gunnsa. Mein einziger Trost ist, dass sie mich zu Ostern besuchen kommt.
Und ich kann ja auch ohne weiteres ab und zu nach Reykjavík fahren. Um kurz vor sechs erreichen wir den Eyjafjord und fahren am Gemeindehaus von Hlíðarbæ vorbei, das früher, lange vor dem Einzug der Kneipen und Clubs, eine wichtige Aufgabe hatte und jetzt einsam und verlassen daliegt.
Ich schalte die Abendnachrichten im Radiosender Rás 2 ein.
When I look out my window,
Many sights to see.
And when I look in my window,
So many different people to be
That is strange, so strange …
Der Text des alten Hits durchbricht die Stille und sickert in mein Bewusstsein. Jóa ist auf dem Beifahrersitz eingenickt. Als der Sänger bei den Schlusstakten seine Stimme anhebt, rührt sie sich.
»Das war Donovan mit
Season of the Witch
«, sagt der Radiosprecher aus dem Studio in Akureyri. »Für Skarphéðinn und die anderen Kids vom Theaterverein des Gymnasiums Akureyri, die die Premiere von
Loftur, der Magier
am Gründonnerstag in Hólar, hier bei uns im Nordland, vorbereiten. Überlassen wir Donovan auch den letzten Song in unserer heutigen Sendung vor Palmsonntag. Bis nächste Woche, am selben Ort, zur selben Zeit. Danke fürs Zuhören und macht’s gut!«
»Danke gleichfalls«, murmelt Jóa.
Der Sänger intoniert den Song mit gefühlvoller Stimme wie ein Geschichtenerzähler, erst mit sanfter Gitarrenuntermalung, dann kommt eine hübsche Klaviermelodie hinzu:
The continent of Atlantis was an island
Which lay before the great flood
In the area we now call the Atlantic ocean.
So great an area of land, that from her western shores
those beautiful sailors journeyed
to the South and the North Americas with ease,
in their ships with painted sails …
Ein schönes Bild, denke ich und versinke wieder in Gedanken.
»Die Menschen glauben immer, sie würden überall Ruinen von diesem Atlantis finden«, sagt Jóa auf einmal. »Ich erinnere mich noch daran, als irgendein Ami behauptet hat, er hätte Überreste von Atlantis durch Schallwellenmessungen im Mittelmeer vor der Küste Zyperns gefunden. Ein deutscher Wissenschaftler hat Atlantis mit Hilfe von Satellitenbildern in den Salzebenen in Südspanien ausfindig gemacht, und ein schwedischer Kollege von ihm beharrt darauf, die Beschreibungen würden eher auf die Gegebenheiten in Irland hindeuten. Ist nur eine Frage der Zeit, wann jemand Atlantis hier in Island findet. Wir glauben immer, das gefunden zu haben, was wir finden wollen.«
»Mir gelingt das aber nicht besonders gut«, erwidere ich.
»Weil du nicht weißt, was du finden möchtest.«
»Aha. Welche Beschreibungen meinst du denn? Gibt es Berichte über Atlantis? Soll es nicht mit Mann und Maus vor über zwölftausend Jahren im Meer versunken sein?«
»Das ist natürlich ein Mythos, Einar«, erklärt Jóa, ein bisschen zu mütterlich für meinen Geschmack. »Die Götter der griechischen Mythologie müssen sich so über die Habgier, Unmoral und Verderbtheit der Einwohner von Atlantis geärgert haben, dass sie das glückselige Inselreich mit einer Flutwelle versenkt haben. Seitdem suchen die Menschen das versunkene Land.«
»Und warum kennst gerade du dich so gut in griechischer Mythologie aus?«
»Hail Atlantis!«, stimmt Jóa auf dem Höhepunkt des Liedes mit dem Sänger ein. »Ich kenne mich in einigen Dingen aus, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest. Ich hab sogar Platon gelesen. Und du?«
»Ja, von dem hab ich auch irgendwas in der Schule gelesen«, entgegne ich triumphierend. »Der war Philosoph im antiken Griechenland. Ich alter Kerl weiß so was. Aber was hat das mit Atlantis zu tun?«
»Er war der Erste, der Atlantis beschrieben hat. Und er war einer von uns.«
»Einer von uns?«, frage ich, als wir an einem Willkommensschild der Stadt Akureyri vorbeifahren. »Oder einer von euch?«
»Sowohl als auch«, antwortet Jóa lachend.
In den Abendnachrichten ist keine Rede von einer Frau aus
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