Todesinstinkt
halbem Weg aus der Station kam der Zug noch einmal ruckend zum Stehen. Ächzend sprangen die Türen einen Spalt auf, schnappten zu und öffneten sich erneut. Anscheinend
hatten ein paar Nachzügler den Schaffner dazu bewegt, sie noch hereinzulassen.
I n den engen Verkehrsadern von Lower Manhattan – sie waren an der Haltestelle City Hall ausgestiegen – wurden Younger, Colette und Littlemore vom kapillaren Druck der Menge mitgerissen. Younger atmete tief durch. Er liebte das Gewimmel der Stadt, ihre kämpferische Zweckgerichtetheit. Er war ein selbstbewusster Mann, war es immer gewesen. Nach amerikanischen Maßstäben war der Arzt von sehr vornehmer Geburt: ein Schermerhorn mütterlicherseits, ein naher Verwandter der Fishes von New York und über seinen Vater der Cabots aus Boston. Dieser erlesene Stammbaum, der ihn inzwischen völlig kaltließ, hatte ihn in seiner Jugend angewidert. Das Überlegenheitsgefühl seiner Schicht erschien ihm so offenkundig ungerechtfertigt, dass er beschloss, genau das Gegenteil von allem zu tun, was von ihm erwartet wurde – bis zum Tod seines Vaters, als ihn Notwendigkeit und Realität einholten und die Frage der gesellschaftlichen Schicht schlagartig jede Bedeutung verlor.
Aber diese Zeit war längst vergangen, weggespült von Jahren der Arbeit, des beruflichen Erfolgs und des Krieges. An diesem Vormittag in New York spürte Younger fast so etwas wie Unbezwingbarkeit. Wahrscheinlich, überlegte er, war das lediglich auf das Wissen zurückzuführen, dass nirgendwo Scharfschützen verborgen lagen, die ihn im Visier hatten, und dass keine Granaten durch die Luft kreischten, um ihn von seinen Beinen zu befreien. Oder es war das schiere Gegenteil: Der Puls der Gewalt war so beherrschend in New York, dass ein Mann, der im Krieg
gekämpft hatte, atmen und sich zu Hause fühlen konnte, dass er die noch von den Nachwirkungen des hemmungslosen Tötens durchzuckten Muskeln anspannen konnte, ohne damit zum Außenseiter oder Ungeheuer zu werden.
»Soll ich es ihm sagen?«, fragte er Colette. Rechts von ihnen erhoben sich unbegreiflich hohe Wolkenkratzer. Links schwang sich die Brooklyn Bridge über den Hudson.
»Nein, das mache ich selbst.« Colette wandte sich an Littlemore. »Es tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe, Jimmy. Ich hätte es schon längst erzählen sollen.«
»Ich habe alle Zeit der Welt«, erwiderte der Detective.
»Nun, wahrscheinlich steckt nichts dahinter, aber gestern Abend kam eine Frau in unser Hotel und wollte mich sprechen. Wir waren nicht da, also hat sie eine Nachricht hinterlassen. Hier.« Colette zog einen zerknitterten Zettel aus ihrer Handtasche, auf dem mehrere hastig hingekritzelte Sätze standen:
Bitte, ich muss Sie sprechen. Denn sie wissen, dass Sie Recht haben. Ich komme morgen früh um halb acht wieder. Bitte helfen Sie mir.
Amelia
»Heute ist sie allerdings nicht erschienen«, ergänzte Colette.
»Kennen Sie diese Amelia?« Littlemore drehte den Zettel um, fand aber nichts auf der Rückseite.
»Nein.«
»›Denn sie wissen, dass Sie Recht haben.‹ Worum geht es da?«
»Ich kann mir keinen Reim darauf machen«, antwortete Colette.
»Das ist aber noch nicht alles«, warf Younger ein.
»Ja, am meisten Sorgen bereitet uns, was sie in den Zettel gefaltet hat.« Colette kramte in ihrer Handtasche. Sie reichte dem Detective einen weißen Wattebausch.
Littlemore zupfte die Fäden auseinander. Vergraben in dem Bällchen lag ein Zahn – der kleine, glänzende Backenzahn eines Menschen.
Plötzlich wurden sie von wüsten Beschimpfungen unterbrochen. Ursache war eine Parade auf der Liberty Street, die den Verkehr behinderte. Alle Marschierenden waren schwarz. Obwohl es mitten unter der Woche war, trugen die Männer ihren – zerrupften und verschossenen – Sonntagsstaat. Magere Kinder trippelten barfuß zwischen ihren Eltern. Die meisten sangen, und ihre Hymnen erhoben sich über den Spott der Schaulustigen und die zornigen Rufe der Automobilisten.
»Immer mit der Ruhe«, rief ein Uniformierter, der selbst noch fast ein Kind war, einem schäumenden Fahrer zu.
Littlemore entschuldigte sich und näherte sich dem Officer. »Was machen Sie denn hier, Boyle?«
»Captain Hamilton hat uns hergeschickt, Sir«, antwortete Boyle. »Wegen der Nigger-Parade.«
»Wer patrouilliert an der Börse?«
»Niemand. Wir sind alle hier. Soll ich den Aufmarsch auflösen, Sir? Sieht nach Scherereien aus.«
»Lassen Sie mich kurz nachdenken.« Littlemore
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