Todesinstinkt
kratzte sich am Kopf. »Was würden Sie am St. Patrick’s Day machen, wenn Schwarze Scherereien machen? Die Parade auflösen?«
»Nein, die Schwarzen würde ich auflösen. Und zwar ordentlich.«
»Richtig, mein Junge. Und hier machen Sie’s genauso.«
»Ja, Sir. In Ordnung. He, ihr da.« Mit gezücktem Schlagstock machte Officer Boyle einen Schritt in Richtung der Marschierenden.
»Boyle!« Littlemores Ton war scharf.
»Sir?«
»Nicht die Schwarzen.«
»Aber Sie haben doch gesagt ...«
»Sie lösen die Unruhestifter auf, nicht die Marschierer. Alle zwei Minuten lassen Sie die Wagen durch. Diese Leute haben genauso ein Recht auf eine Parade wie alle anderen.«
»Ja, Sir.«
Littlemore wandte sich wieder Younger und Colette zu. »Na schön, das mit dem Zahn ist ein bisschen merkwürdig. Warum sollte Ihnen jemand einen Zahn hinterlassen?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Sie setzten ihren Weg Richtung Süden fort. Littlemore hielt den Zahn ins Sonnenlicht und drehte ihn zwischen den Fingern. »Sauber, guter Zustand. Warum ist er dann nicht an seinem Platz?« Er schaute wieder auf den Zettel. »Auf der Nachricht steht nicht Ihr Name, Miss. Vielleicht war sie gar nicht für Sie bestimmt.«
»Der Rezeptionist sagt, die Frau hat nach Miss Colette Rousseau gefragt«, entgegnete Younger.
»Vielleicht jemand mit einem ähnlichen Nachnamen«, sinnierte Littlemore. »Das Commodore ist ein großes Hotel. Gibt’s da auch Zahnärzte?«
»Im Hotel?«, fragte Colette.
Younger ging dazwischen. »Woher wissen Sie, dass wir im Commodore wohnen?«
»Hotelstreichhölzer. Sie haben Ihre Zigarette damit angezündet.«
»Diese furchtbaren Streichhölzer«, warf Colette ein. »Bestimmt spielt Luc wieder damit. Luc ist mein kleiner Bruder. Er ist zehn. Stratham gibt ihm Streichhölzer als Spielzeug.«
Younger blieb ungerührt. »Der Junge hat im Krieg Handgranaten zerlegt. Da passiert nichts.«
»Mein Ältester ist auch zehn – Jimmy Junior.« Littlemore sah Colette an. »Sind Ihre Eltern ebenfalls hier?«
»Nein, wir sind allein«, erwiderte sie. »Wir haben unsere Familie im Krieg verloren.«
Soeben hatten sie das Bankenviertel mit seinen Granitfassaden und schwindelerregend hohen Türmen betreten. Auf den Gehsteigen verkauften Händler in dreiteiligen Anzügen meistbietend Wertpapiere.
»Es tut mir leid, Miss«, sagte Littlemore. »Das mit Ihrer Familie.«
»Das ist nichts Besonderes«, erwiderte sie. »Viele Familien haben Tote zu beklagen. Mein Bruder und ich hatten Glück, wir haben überlebt.«
Littlemore warf Younger einen Seitenblick zu, doch der Arzt ließ sich nichts anmerken. Younger wusste, was den Detective bewegte: Wie konnte es nichts Besonderes sein, die eigene Familie zu verlieren? Aber Littlemore hatte den Krieg nicht erlebt. Schweigend gingen sie weiter und hingen ihren Gedanken nach. Daher bemerkten sie nichts von dem Geschöpf, das sich von hinten näherte. Selbst Colette
war völlig ahnungslos, bis sie den heißen Atem im Nacken spürte. Sie fuhr zusammen und stieß einen erschrockenen Schrei aus.
Es war eine alte braune Mähre, die schwer schnaufte vom Gewicht des verwahrlosten, überladenen Holzkarrens, den sie zog. Erleichtert und zerknirscht kraulte Colette dem Pferd das Ohr. Die Mähre blähte dankbar die Nüstern. Fauchend drosch der Kutscher dem Pferd die Gerte in die Flanke. Colette riss die Hand weg. Mit lautem Klappern setzte der sackleinenbedeckte Wagen seinen Weg über das Kopfsteinpflaster der Nassau Street fort.
Littlemore wandte sich an die Französin. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Natürlich«, antwortete Colette.
»Wer in New York weiß, wo Sie wohnen?«
»Niemand.«
»Und was ist mit der alten Dame, die Sie beide heute Morgen besucht haben? Die mit den Katzen, die gern Leute umarmt?«
»Mrs. Meloney? Nein, ich habe ihr nicht erzählt, in welchem Hotel ...«
Younger unterbrach sie. »Wie können Sie das wissen?« Für Colette fügte er hinzu: »Ich habe ihm nichts von Mrs. Meloney erzählt.«
Sie näherten sich der Kreuzung Nassau Street, Broadway und Wall Street – dem Finanzzentrum von New York City und wohl der gesamten Welt.
»Eigentlich ganz naheliegend«, meinte der Detective. »Sie haben beide Katzenhaare an den Schuhen, und Sie, Doc, auch an den Hosenaufschlägen. Verschiedene Arten von Katzenhaaren, wohlgemerkt. Also war mir gleich klar,
dass Sie beide heute Morgen an einem Ort mit vielen Katzen waren. Außerdem hat Miss Colette zwei lange graue
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