Todeskleid: Thriller (German Edition)
stieg augenblicklich Ärger in ihm auf. Phin Radcliffe stieß ihm das Mikro ins Gesicht, wann immer er aus dem Gericht kam. Eine Menge Reporter taten das, aber Radcliffe ging immer einen Schritt zu weit. Wenn er eine Story wollte, ließ er sich durch nichts und niemanden aufhalten.
» … starb durch die Kugel eines Scharfschützen«, sagte Radcliffe gerade. »Die Anwohner werden gebeten, bis auf weiteres in ihren Wohnungen zu bleiben. Obwohl bislang jeder Hinweis auf den Täter fehlt, verfügen wir über exklusives Material, das den Tathergang sehr deutlich zeigt. Ich möchte Sie jedoch warnen: Die folgenden Bilder sind nicht für junge oder empfindliche Zuschauer geeignet.«
Schnitt. Man sah eine Frau, auf die ein Minivan zuraste, und Grayson blieb der Mund offen stehen. Die Frau ging in die Hocke, federte ab und landete gute zweieinhalb Meter weiter auf den Knien. Den großen Rottweiler an der Leine zerrte sie einfach mit sich.
Einen Sekundenbruchteil später krachte der Wagen gegen den Laternenmast. Das Video hatte keinen Ton, aber es war nicht zu übersehen, dass der Hund wie verrückt bellte. Was man ihm kaum verübeln konnte.
»Hast du das gesehen?«, fragte Ben. »Mann, hat die Gazellengene?«
Grayson hatte es gesehen, und er war sich nicht sicher, ob er seinen Augen trauen konnte. Die Kamera ignorierte den Van und zoomte das Gesicht der Frau heran, und Grayson, der automatisch die Luft angehalten hatte, atmete langsam aus. Ihre Augen waren schwarz wie die Nacht und wirkten riesig in dem blassen Gesicht. Ihr langes, ebenfalls schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, der ihr bis halb über den Rücken fiel.
Grayson konnte den Blick nicht von ihr lösen, und die Person, die filmte, offenbar auch nicht, denn das Objektiv blieb auf sie gerichtet, ohne zu dem verunglückten Minivan zu schwenken.
Statt sich in Deckung zu bringen, kam die Frau wieder auf die Füße und rannte, den Rottweiler auf den Fersen, auf den Wagen zu. Die Kamera folgte ihr, und nun sah man durch das vordere Beifahrerfenster eine Frau, zusammengesackt über dem Steuer des Fahrzeugs. Der Aufnahmewinkel – leicht schräg von oben – blieb die ganze Zeit über gleich.
»Die Kamera befindet sich auf einem der Balkone dieses Apartmentkomplexes«, stellte Grayson beklommen fest. Eine Frau war gestorben, hatte Profacci gesagt. Hoffentlich nicht sie, dachte Grayson und hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen.
»Der Kameramann hat anscheinend einen Narren an der Gazelle gefressen«, bemerkte Sandi.
»Wundert mich nicht«, sagte Ben. »Die ist ja …«
Das Bild riss ab, eindeutig unprofessionell geschnitten, dann sah man, wie die Frau panisch Druck auf die Wunden des Opfers ausübte. Aus dem Blickwinkel der Kamera war das Gesicht der Verletzten nicht zu erkennen. Ein Segen für die Angehörigen, dachte Grayson.
Er wusste, was passieren würde, doch er konnte den Blick nicht vom Bildschirm wenden. Eine der beiden Frauen würde im nächsten Moment erschossen werden. Die Dunkelhaarige arbeitete fieberhaft. Sie schien mit der Verletzten zu sprechen, denn man konnte erkennen, wie sich ihre Lippen bewegten.
Im Hintergrund sah man, wie sich der Hund zähnefletschend zwischen die immer größer werdende Menge der Schaulustigen und den Minivan setzte. Niemand wagte es, näher heranzukommen, obwohl mehrere Leute ihr Handy gezückt hatten. Noch mehr Filmchen. Noch mehr Fotos. Aasgeier, dachte Grayson angewidert.
Du siehst es dir ja auch an. Was sagt das über dich aus?
Ein Krankenwagen kam mit quietschenden Reifen hinter dem Van zu stehen, die Rettungssanitäter sprangen heraus. Die Frau blickte sich nach ihrem Hund um und …
Grayson verzog unwillkürlich das Gesicht, als ein Teil des Bildschirms absichtlich verpixelt wurde, so dass Van, Opfer und die schwarzhaarige Frau verborgen waren.
Die Kamera schwankte wie wild, dann stabilisierte sich das Bild, doch nun wurde aus einem anderen Blickwinkel gefilmt. »Ich schätze, wer immer die Kamera in der Hand hält, hat sich gerade auf den Boden fallen lassen«, murmelte Ben.
»Und filmt weiter«, setzte Sandi ungläubig hinzu. »Ganz schön mutig. Oder total bescheuert.«
Die dunkeläugige Frau taumelte aus dem verpixelten Bereich, fort vom Minivan, der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Graysons angespannte Schultern lockerten sich. Er hat nicht sie getroffen. Einen Augenblick lang blieb die Frau wie erstarrt stehen, während um sie herum das Chaos losbrach. Ein
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