Todesläufer: Thriller (German Edition)
ABZULAUFEN.
Dieses Herodot-Zitat an der Fassade des nach dem Postminister James Farley benannten New Yorker Hauptpostamts hatte leider mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun.
Seit dem Vorabend galt die höchste Alarmstufe, und so wurde kaum noch Post sortiert und ausgetragen. In den riesigen Hallen des von der Ninth Avenue zugänglichen Komplexes, der die gesamte Fläche des Häuserblocks in Anspruch nahm, standen die weißen Postautos und Rollwagen mit dem Adler der US Mail still.
Auf ausdrückliche Anweisung der Heimatschutzbehörde hatte man für die Postkunden einen Notdienst eingerichtet, doch in der rund hundert Meter langen Schalterhalle, die gegenüber dem Madison Square Garden bis in die Eighth Avenue hineinragte, waren nur wenige Menschen zu sehen.
Daher war es ein Leichtes, die verschleierte Frau im schwarzen Kleid auszumachen, die an die dreißig braune Umschläge in den Armen hielt, die genauso aussahen wie die, die in jüngster Zeit den »aktivierten« Läufern zugestellt worden waren. Genau unter einem der riesigen Sternenbanner an den Stirnseiten des Raumes nahm der Sicherheitsdienst sie so unauffällig wie möglich beiseite.
Nach einem empörten Aufschrei folgte sie den Wachleuten, die sie zwei FBI -Beamten in Zivil übergaben, die an der 33. Straße warteten. Liz, die man unverzüglich informiert hatte, traf zwei Minuten nach ihr beim FBI am Federal Plaza ein. Lance Devroe empfing seine Kollegin von der Heimatschutzbehörde im dreiundzwanzigsten Stock. Als Liz an der weißen Wand die Stelle sah, an der die Kugel eingeschlagen war, die Bentons Oberschenkel gestreift hatte, unterdrückte sie ein Lächeln.
Gleich nach der Begrüßung fragte sie: »Ist Francis da?«
»Nein, er ist im Roosevelt.«
»Was, noch immer? Wieso? Nutzt er die Gelegenheit und lässt sich mal gründlich durchchecken, oder was?«
»Die Zusammenarbeit mit Retner, dem Leiter der Kardiologie, der uns die verdächtigen Chirurgen übergeben hat, ist anscheinend nicht reibungslos verlaufen.«
»Inwiefern?«
»Er hat Benton ohne dessen Wissen sediert. Er ist gerade erst wieder zu sich gekommen.«
Ein ganz schön cleverer Bursche, dieser Retner. Liz konnte sich gut vorstellen, wie Benton vor Wut schäumte.
»Das heißt, die Chirurgen sind hier, aber es hat sie noch niemand befragt?«
»Genau.«
»Schön, und was ist mit der Frau vom Postamt? Wo ist die?«
»Im Verhörzimmer. Wenn Sie mir bitte folgen wollen …«
Wie schön sie ist , war Liz’ erster Gedanke beim Blick durch den Einwegspiegel. Und außerdem jung. Der Schleier vor ihrem wettergebräunten Gesicht ließ ihre ebenmäßigen Züge erahnen.
Wortlos trat Liz ein und setzte sich ihr gegenüber. Ungeöffnet lag auf dem Tisch zwischen ihnen einer der Umschläge, die die junge Frau hatte aufgeben wollen.
Liz legte eine Hand auf das braune Rechteck.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich tue so, als ob ich nicht wüsste, was da drin ist.«
Die Frau blickte sie stumm an. In ihren von langen Wimpern umrahmten schwarzen Augen lag unübersehbar Angst.
»Ich stelle Ihnen ein paar einfache Fragen. Keine Fangfragen. Solange Sie darauf antworten, gehe ich davon aus, dass Sie mit dem hier nicht unmittelbar zu tun haben. Verstehen Sie, was ich meine?«
Die andere nickte scheu.
Unwillkürlich musste Liz an die Frauen denken, die man in den neunziger Jahren mit einem Rucksack oder dem Magen voller Kokainpäckchen auf der Strecke Bogotá-Miami als Drogenkuriere missbraucht hatte. Sie hatte mehr als eine von ihnen verhört, als sie noch beim FBI war. Eine wie die andere waren das hilflose Geschöpfe gewesen, deren Armut man ausgenutzt hatte, um sie für ein paar Hundert Dollar in bar zu dieser Tat zu veranlassen.
Sie hart anzufassen wäre sinnlos gewesen. Je offener man gegen sie vorging, desto mehr hatten sie sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen. Wenn man sie zu einer Zeugenaussage bewegen wollte, musste man ihnen eine Gegenleistung anbieten, und sei es nur die Zusage, dass man sie schützen werde.
»Können Sie mir als Erstes Ihren Namen nennen?«
»Asima.«
»Und wie weiter? Was ist Ihr Nachname?«
»Khan.«
»Stimmt«, bestätigte eine Stimme in ihrem Ohrhörer.
»Sie stammen aus Pakistan?«
Der Name Khan war dort etwa ebenso häufig wie Smith oder Jones in angelsächsischen Ländern. Auch der »Vater der pakistanischen Atombombe« hieß so, Abdul Qadeer Khan.
Wieder nickte die junge Frau.
»Wer hat Ihnen aufgetragen, diese Briefe zur Post zu
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