Todeslauf: Thriller (German Edition)
Anne-Frank-Haus, vor dem oft Leute stehen blieben, um es still und respektvoll zu fotografieren. Das einzige Fahrzeug auf dem Kanal war eines von diesen Touristenbooten, auf denen die Leute die reizvollen Gebäude an der Wasserstraße bewunderten und Erinnerungsfotos knipsten.
Die Luft roch noch nach dem morgendlichen Regen, doch die Sonne hatte die Wolken bereits vertrieben. Das Zweite, was einem in Amsterdam nach den Kanälen sofort ins Auge springt, sind die Fahrräder. Sie sind allgegenwärtig, und an einem warmen Frühlingstag schwärmen sie aus wie die Bienen aus dem Stock. Es sind keine teuren neuen Räder, zumal sie auch oft gestohlen werden, doch jedermann benutzt sie – der Anwalt im Anzug ebenso wie die Mutter mit ihren Kindern, die Studenten ebenso wie die Büroangestellten. Und keiner trägt einen Helm. Auch jetzt, zwischen morgendlichem Stoßverkehr und Mittagspause, sausten unablässig Radfahrer am Rode Prins vorbei. Zwei Männer saßen draußen an einem Tisch, tranken ihr Bier und betrachteten das Funkeln des Lichts auf dem Wasser hinter den Hausbooten.
Mila und ich traten ein, und nachdem ich schon einige Male in Amsterdam gewesen war, erkannte ich sofort, dass der Rode Prins ein Exemplar einer aussterbenden Kunst war, ein echtes »braunes Café«, wie traditionsreiche Kneipen in Holland genannt wurden; der Name kam daher, dass die Wände früher vom Tabakrauch braun verfärbt waren. Heute wurde hier nicht mehr geraucht, und die Wände waren nur noch braun gestrichen. Der Raum war schmal, mit einer langen Sitzbank, vor der einige Tische standen, einem großen Tisch beim Fenster und einer schönen Bar an der Wand gegenüber. Rote Lampenschirme hingen von der Decke, und die Wand war mit einem Gemälde irgendeines vergessenen Angehörigen des Königshauses geschmückt. Ein roter Fleck verlief über Gesicht, Kleider und Hände des Monarchen, so als hätte hier jemand Paintball gespielt. Der Prinz auf dem Bild wirkte einsam. Für mich klang »Rode Prins« wie »Road Prince«, der König der einsamen Wanderer.
Ich warf einen Blick in die Speisekarte; es wurden Biere angeboten, die speziell für die Jahreszeit gebraut wurden. Das war eine Bar nach meinem Geschmack. Es überraschte mich, dass Mila ein solches Lokal für ein Treffen auswählte.
Ein Barkeeper – groß, kräftig, kahlköpfig und mit einer Lücke zwischen den Vorderzähnen – trat zu uns an den Tisch. Mila wechselte ein paar schnelle Worte auf Niederländisch mit dem Mann, während er mich leicht argwöhnisch beäugte. »Sam«, sagte Mila schließlich, »das ist Henrik. Henrik, das ist Sam. Sam wird oben wohnen. Geben Sie ihm alles, was er braucht.« Henrik schüttelte mir die Hand; ein fester aufrichtiger Händedruck. Während Mila etwas Geheimnisvolles an sich hatte, wirkte Henrik wie ein Barkeeper, mit dem man über alles reden konnte. Ich würde hier wohnen? Ich sagte nichts, doch Henrik akzeptierte es mit einem höflichen Nicken.
Er zeigte auf den hinteren Bereich der Bar, auf einen schmalen Gang, der mit Schwarz-Weiß-Fotografien der Prinsengracht im Wandel der Zeit geschmückt war. Ich folgte Mila, als sie nach hinten ging und eine Treppe hinaufstieg.
Sie blieb stehen und sah mich an. »Bahjat Zaid ist ein Mann, der große Angst um seine Tochter hat. Er kennt Sie nicht und vertraut Ihnen sozusagen das Leben seiner Tochter an. Sie sollten sein Vertrauen nicht erschüttern. Wir sind seine einzige Hoffnung. Er kann nicht zur Polizei gehen.«
»Warum?«
»Er wird es Ihnen erklären.« Mila drehte sich um, und ich folgte ihr die Treppe hinauf. In einer Privatwohnung über der Bar saß ein groß gewachsener Mann mit hochgezogenen Schultern, als hätte er vergeblich versucht, wie Atlas das Gewicht der Welt zu tragen. Er stand auf, als wir eintraten, und strich mit den Händen über sein maßgeschneidertes Anzugjackett.
»Das ist der Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe, Bahjat«, sagte Mila. »Sam Capra.« Ich war überrascht, dass sie ihm meinen echten Namen nannte, ließ es mir aber nicht anmerken. Sie musste ihre Gründe haben.
Bahjat Zaid schüttelte mir die Hand und musterte mich eingehend. Er hatte einen festen Händedruck und einen noch festeren Blick. Er sah mich an, wie ein Chef einen Angestellten ansieht, der ihm schlechte Nachrichten überbringen könnte.
Wir setzten uns; Mila fragte, ob ich einen Kaffee wolle. Ich sagte Nein.
Bahjat Zaid hatte ein schmales Gesicht, das vom Schmerz gezeichnet war, und sein Englisch
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