Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Abweichungen der vergangenen Tage von seinem ansonsten genau eingeteilten Alltag hatten ihm nicht gutgetan. Trotz der Medikamente war sein Blutdruck beunruhigend hoch, seit Ella Andersson ihn zum ersten Mal angerufen hatte. Er maß ihn dreimal täglich, obwohl sein Hausarzt ihm davon abgeraten hatte. Aber auf diese Weise konnte er ein Diagramm erstellen und sehen, wie sich sein Blutdruck über den Tag verteilt entwickelte, und er war mit den Werten in den letzten Tagen nicht zufrieden. Gegen seinen Willen hatte er sich überreden lassen, Ella ein weiteres Mal zu helfen. Sie war zwar zweifelsohne eine faszinierende Frau, aber das war nicht der Grund, der ihn dazu bewegt hatte, das Archiv des Rossing-Konzerns aufzusuchen. Denn eigentlich war er in keiner Weise dafür geeignet, in seiner Freizeit den Spion zu spielen. Gilbert hielt sich während seiner Berufstätigkeit lieber an die Regeln und Gesetze, die ihm bekannt waren, und er hatte nie eine Veranlassung gehabt, sie zu übertreten. Aber gewisse Umstände um Fredericks Tod hatten ihn in all den Jahren immer wieder beschäftigt, auch wenn er längst die Hoffnung aufgegeben hatte, noch eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten. In unzähligen schlaflosen Nächten hatte er darüber nachgedacht, welche Rolle Frederick eigentlich gespielt und wie sein ursprünglicher Plan ausgesehen hatte. Bereits nach dem ersten Treffen mit Ella war seine Hoffnung wieder geweckt worden, doch noch eine Antwort zu erhalten. Denn sie strahlte eine Überzeugung und eine Zuversicht aus, die selbst einer unruhigen Seele wie Gilbert wieder neuen Mut einflößte.
Obwohl Gilbert inzwischen seit fast zehn Jahren in Rente war, begrüßte ihn die Empfangsdame wiedererkennend, als er das Gebäude des Rossing-Konzerns betrat. Er nickte zur Antwort kurz und ging zu den Aufzügen. Das Archiv befand sich im Keller. Davor saß eine Sekretärin, die gerade dabei war, Aktenordner zu sortieren. Ihrem jungen Alter nach arbeitete sie noch nicht besonders lange für den Rossing-Konzern. Während ihm der Schweiß von der Stirn rann, ging er mit entschlossenen Schritten auf sie zu. Sie sah fragend auf, woraufhin er ihr sein Anliegen mitteilte. Oder zumindest irgendein Anliegen.
Bevor ihm Zugang zum Archiv gewährt wurde, musste er seinen Namen in eine Liste eintragen. Wenn er seine blutdrucksenkenden Medikamente nicht eingenommen hätte, hätte sein Herz jetzt mit Sicherheit wild geklopft. Doch das etwas unmoderne, aber langerprobte Medikament, das er jeden Morgen einnahm, blockierte die Rezeptoren, die eigentlich dafür zuständig waren, die körpereigenen Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin aufzunehmen, die das Herz schneller schlagen ließen. Hormone, die zwar in sein Blut gepumpt wurden, aber keine Reaktion auslösten, während Gilbert vor der Frau am Eingang zum Archiv stand. Im Unterschied zu beispielsweise nervös veranlagten Referenten, die diese Pillen einnahmen, um ihre Nervosität vor einem Vortrag zu verbergen, war dies für Gilbert lediglich ein im Augenblick dienlicher Nebeneffekt.
Abgesehen von einigen neuen Regalen im Archiv sah es dort aus wie früher. Der private Tresor der Familie Rossing stand immer noch in der hinteren Ecke. Es war ein uralter Panzerschrank aus Stahl, der noch aus den alten Firmenräumen stammte. Er war mit einem mechanischen Kombinationsschloss versehen und damals bestimmt sehr modern gewesen. Gilbert hatte während seiner Jahre im Rossing-Konzern viele Stunden in genau diesem Archiv zugebracht und kannte seinen Inhalt in- und auswendig. Die Überwachungskamera, die auf die Tür des Archivs gerichtet war, war hingegen eine neue Errungenschaft. Sie war gerade eine Woche zuvor installiert worden und entging Gilbert völlig.
Bevor man dazu übergegangen war, alles im Computer abzuspeichern, waren alle Rechnungen und Buchhaltungsunterlagen in Papierform in preußischer Ordnung archiviert worden. Gilbert war auf der Suche nach einem Auszug aus dem Personalregister von 1976. Die nämliche Fabrik war bereits seit Langem stillgelegt; ein Teil davon war nach China verlegt worden, und dort, wo die alten Fabrikgebäude gelegen hatten, standen nun moderne Eigentumswohnungen. Gilbert fand sich im Archiv rasch zurecht und zog eine braune Mappe hervor, die sämtliche Namen der Angestellten der Fabrik im Rechnungsjahr 1976 enthielt. Hinter der Mappe steckte ein großes Schwarz-Weiß-Foto, auf dem sich die Angestellten der Fabrik vor dem Hauptgebäude zu einem Gruppenfoto
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