Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
eigentlich für Mikael empfand. Dass er zehn Jahre älter war als sie, hatte sie in gewisser Weise bereits verdrängt, obwohl sie oft verächtlich reagierte, wenn Frauen ältere Männer heirateten, nur um ein paar Jahre später mit den Konsequenzen leben zu müssen, wenn das Alter seinen Tribut forderte. Aber wenn sie näher darüber nachdachte, so hatte keine dieser Frauen, die sie lediglich oberflächlich kannte, jemals gesagt, dass sie ihre Entscheidung bereute. Es war eher Ella selbst, die nicht unbedingt vorhatte, die Krankenschwester zu spielen, wenn ihr Ehemann alt werden würde. Mikael war ausgeglichen und wirkte insgesamt zufrieden mit sich, Eigenschaften, die Ella sehr schätzte. Er schien sich außerdem weder durch ihre berufliche Karriere noch durch ihre Persönlichkeit bedroht zu fühlen, ein Problem, das entstehen konnte, wenn gut ausgebildete Frauen einen Partner suchten. Im Moment begnügte sie sich damit, dass sie sich in Mikaels Nähe wohlfühlte und ihn sehr mochte. Das reichte ihr absolut.
»Und du hast nach Alfred nie wieder jemanden kennengelernt?«, fragte Ella unvermittelt. Sie fand, dass sie genügend Fragen zu ihrem eigenen Liebesleben beantwortet hatte, und wollte Estrid nicht anlügen müssen.
Für einen kurzen Moment meinte Ella zu sehen, wie sich das Gesicht der alten Dame verzerrte. Als hätte sie für den Bruchteil einer Sekunde unerträgliche Schmerzen gelitten. Doch dann war ihr Gesichtsausdruck wieder wie immer, und Ella war sich nicht mehr ganz sicher, was sie eigentlich gesehen hatte. Estrid senkte den Blick ein wenig und schüttelte den Kopf.
Nachdem Ella Estrid wieder nach Hause gefahren hatte und die alte Dame allein im Flur saß, kamen ihr die Tränen. Sie hatte es nicht über sich gebracht, Ellas Blick zu erwidern, als sie nach Alfred gefragt hatte. Für sie war Ella immer noch ein Kind, das man vor den Widrigkeiten des Lebens schützen musste, auch wenn sie wusste, dass Ella bereits weitaus mehr gesehen hatte als andere. Sie wollte jedoch auf jeden Fall, dass Alfred in Ellas Welt der nette, sonnengebräunte Mann bleiben würde, der über die Sieben Weltmeere segelte und mit Geschenken aus fernen Ländern zurückkehrte. Es war auch für sie selbst leichter, mit einer Vergangenheit zu leben, in der der Mann, den sie geliebt hatte, wenn schon nicht in ihren eigenen Augen, dann doch zumindest in den Augen anderer ein guter Mann blieb.
Auf ihrem Schoß lag der Pelzmantel, den sie auf der Fahrt von Ellas Wohnung getragen hatte. Sie strich mit ihren knochigen Fingern über den weichen Pelz. Er war ein Geschenk gewesen. Eines von vielen schönen und teuren Geschenken, die sie im Laufe der Jahre zum Geburtstag bekommen hatte. Über diese Geschenke wurde jedoch nie gesprochen, und sie waren auch nie mit einem Absender versehen. Dass sie von Grete kamen, war Estrid allerdings inzwischen längst klar.
Die Verbindung zwischen den beiden alten Damen war viel zu kompliziert, um sich analysieren zu lassen. Für einen Außenstehenden war Estrid die kurz gehaltene Haushälterin und Grete die tyrannische Dame aus der Oberschicht. Grete hatte Estrid ständig kritisiert und ihr erklärt, wie man die Dinge in Deutschland handhabte, und Estrid hatte ihr zugehört und sich für die Erklärungen bedankt. Doch sobald die beiden allein waren, waren sie einander ebenbürtige Damen. Mit den Jahren hatten sie einen besonderen Tonfall untereinander entwickelt. Er war brutal ehrlich und rau, aber immer herzlich. Sie hatten darüber gewitzelt, wer von beiden die andere wohl über die Klippe stoßen, wer zuerst die Zähne verlieren und welche Kost sich am besten zum Pürieren eignen würde.
Das war allerdings nicht immer so gewesen. Anfänglich war Estrids unterwürfige Haltung keine Tarnung, sondern notwendig gewesen, um sich in den Haushalt einzufügen. Obwohl Grete nicht viel älter als zwanzig war, als sie nach dem Krieg nach Schweden kam, besaß sie bereits die Tendenz, andere zu dominieren, und leitete den Haushalt mit eiserner Hand. Erst nach den Vorfällen mit Alfred hatte sich alles verändert. Der Pelzmantel war das erste Geschenk, das Estrid nach dem Gerichtsprozess erhielt, der zwei Tage nach ihrem Geburtstag abgeschlossen worden war. Das Urteil wurde am zweiten Tag in Estrids neunundvierzigstem Lebensjahr gefällt.
*
Gilbert Gustavsson hatte schon immer eine ziemlich nervöse Veranlagung. Es gab vieles, was ihn beunruhigte, und er verabscheute alles, was neu und unerprobt war. Die
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