Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
letzte Punkt auf Gretes Liste, sollte nach Judits Aussage im früheren Arbeitszimmer stehen. Ella schaltete das Licht ein und sah sich in dem kleinen, aber sehr gepflegten Zimmer um. Es wies auf den Garten und war lediglich mit einem kleineren Fenster versehen. Ella hatte den Verdacht, dass Grete nicht gerade viel Zeit in Ernsts ehemaligem Arbeitszimmer verbrachte und es eher als Lagerraum für die antiken Gegenstände benutzte, die sich auch in Gretes Wohnung ansammelten. Auf dem Fensterbrett stand die Kristallvase. Sie war beinahe einen halben Meter hoch und bestimmt so schwer, dass Ella ihr Auto benötigen würde, um sie zum Krankenhaus zu transportieren. Dort würde sie allerdings nur eine einzige Funktion erfüllen, die jedoch nichts mit Blumen zu tun hatte, schloss Ella. Sie sollte dem Pflegepersonal auf der Station signalisieren, dass Grete eine feine Dame war. Als hätte man das dort noch nicht bemerkt.
Dann fiel Ellas Blick auf Gretes antiken Mahagonisekretär. Er war zweifellos unbeschreiblich schön. Ohne weiter nachzudenken, ging sie auf ihn zu und öffnete die oberste Schublade. Rasch sah sie die Papierstapel und alten Briefe durch, die Grete darin verwahrte. Vom Korridor her hörte sie vorsichtige Schritte. Sie verfluchte diesen Portier und die Freiheiten, die er sich herausnahm. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Türknauf langsam gedreht wurde.
Im selben Augenblick, als der Portier hereinkam und mit weit aufgerissenen Augen in den Raum hineinstarrte, drückte Ella ihm die große Kristallvase in die Arme. Dann ließ sie sie los. Wie Ella vorausgesehen hatte, warf sich der Mann haltlos zu Boden, um die Vase zu retten, was ihm zu Ellas Erstaunen auch gelang.
»Das hätte aber übel ausgehen können«, bemerkte Ella und schüttelte den Kopf.
Der Mann kam langsam wieder auf die Beine, wobei er krampfhaft die schwere Vase festhielt.
»Ich bin hier gleich fertig«, fuhr sie mit heiterer Stimme fort und hielt ihre kleine Liste hoch. »Aber seien Sie vorsichtig mit der Vase«, fügte sie hinzu und lächelte.
Zum Glück war der Mann immer noch so überrascht von Ellas Verhalten, dass er nicht einmal auf die Idee kam zu protestieren. Er meinte sich an eine junge Frau zu erinnern, die dieser Ella, die nun bei ihm aufgetaucht war, ähnlich sah und die offenbar Gretes Enkelkind war. An die Persönlichkeitszüge, die diese Frau jetzt aufwies, konnte er sich allerdings nicht erinnern. Die einzige Person, der er zuvor begegnet war und die ihn in ähnlicher Weise zurechtgewiesen hatte, war hingegen eng mit ihr verwandt. Grete.
Als Ella hörte, wie der Mann mit leicht schlurfenden Schritten zurück in Richtung Flur ging, wandte sie sich wieder dem Sekretär zu. Sie betrachtete ihn. Ein Möbelstück, das dafür gebaut war, die liebsten Stücke einer Frau zu beherbergen, dachte sie. Briefe und Tagebücher. Schmuck. Geheimnisse. Sie setzte sich vor das Möbelstück und strich mit der Hand über die kleinen Schubladen, die sich über der schmalen Schreibfläche befanden. Plötzlich fiel ihr eine Szene aus ihrer Kindheit wieder ein, als Grete ihre Hand ergriffen und ihr etwas entrissen hatte, was sie darin hielt. Ihr Griff war hart wie Stahl gewesen. Mit einem Ruck richtete Ella sich auf. In der obersten Schublade auf der rechten Seite hatte sie als Sechsjährige etwas gefunden. Etwas, was sie nicht hätte sehen dürfen. Die Erinnerung daran war jetzt glasklar. Entschlossen zog sie die Schublade heraus. Unter einer alten Brieftasche, die wohl Ernst gehört hatte, lag das Foto. Das Polaroidbild war verblasst und vergilbt, doch Christophers Lächeln war unverkennbar. Ella ließ die Schublade offen stehen und nahm das Foto an sich. Sie ging am Portier vorbei, der mit der Kristallvase im Arm bereits ungeduldig im Flur wartete, und lief die Treppen hinunter. Seine Stimme hallte im Treppenhaus, als er ihr etwas hinterherrief.
»Behalten Sie sie«, rief sie zurück.
Sie hatte sich im selben Augenblick entschieden, als sie die Vase erblickt hatte. Dieses Stück würde Gretes Zimmer im Krankenhaus niemals schmücken.
Mit einem deutlichen Ziel vor Augen setzte sie sich ins Auto. Auf dem Weg zum Krankenhaus hielt sie zweimal an. Zuerst vor einem Fotogeschäft und danach vor einem Einrichtungsladen der billigeren Sorte. Vor dem Krankenhaus blühte der Huflattich. Jetzt ließ sich der Frühling nicht mehr aufhalten, dachte Ella, während sie zum Haupteingang ging. Inzwischen plagten sie keine Zweifel mehr. Keine Angst. Im
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