Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
verhielt, aber bei den Gelegenheiten, wo sein Name fiel, hatte sie genau diesen Eindruck.
Im Alter von neununddreißig Jahren besaß die Haut leider nicht mehr die Elastizität, mehrere schlaflose Nächte hintereinander zu verzeihen, ohne sichtbare Spuren unter den Augen zu hinterlassen. Mit einer reichlichen Menge an teuren Gesichtscremes, an deren Effekt Ella mit ihrer wissenschaftlichen Skepsis eigentlich nicht glaubte, aber zugleich intensiv darauf hoffte, meinte sie, die Folgen ihrer Schlaflosigkeit am Wochenende zumindest gelindert zu haben. Doch der Spiegel über dem Waschbecken im Umkleideraum in der Arbeit zeigte sich gnadenlos.
Sie hatte am Montagvormittag drei mehr oder weniger unkomplizierte Obduktionen durchgeführt und wurde ihr Spiegelbild erst gewahr, als sie sich hinterher die Hände wusch. »Er schmeichelt der Jugend, ist jedoch dem alternden Menschen gegenüber ein rücksichtsloser Verfechter der Wahrheit.« So hatte sie einmal jemanden einen Spiegel beschreiben hören, und nie erschien ihr dieser Ausdruck treffender als jetzt. Sie wusste, dass sie umgehend eine Erklärung dafür finden musste, warum die Tischuhr den Flammen entkommen war. Ansonsten würde sie ein Facelifting oder eine überdimensionale Sonnenbrille benötigen, um die dunklen Ringe unter ihren Augen zu kaschieren. Außerdem war ihr Haar strähnig, und um die Nase und den Mund herum zeichneten sich nach dem Tragen der Schutzausrüstung rote Flecken ab.
Ihr letzter Fall war ein Mann mit Hepatitis gewesen. Die spezielle Schutzausrüstung, die sie getragen hatte, beinhaltete unter anderem einen Mundschutz mit zugehörigem Visier. Eigentlich hätte sie auch spezielle Handschuhe tragen müssen, die verhinderten, dass man sich schnitt. Aber sie waren so dick, dass man das Gefühl in den Fingerspitzen verlor, das man benötigte, um eine Obduktion sicher durchführen zu können. Außerdem schützten sie lediglich vor Schnittwunden und nicht vor einem Stich mit der Messerspitze, was im Obduktionssaal bedeutend häufiger vorkam, wenn es schon einmal schieflief. Mit den Jahren hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sie die Ansteckungsgefahr am effektivsten minimierte, wenn sie sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Im Stress lag wahrscheinlich die größte Gefahr, und daran konnten auch Sicherheitsvorschriften nichts ändern.
Sie schloss für einige Sekunden die Augen und versuchte sich zu sammeln. Die drei Fälle hatte sie bereits hinter sich gelassen, und gedanklich würde sie sich auch erst wieder mit ihnen auseinandersetzen, wenn die Protokolle fertiggestellt und die Gutachten formuliert werden mussten. Sie zog die Obduktionskleidung aus und stellte sich unter die Dusche, ohne die Augen zu öffnen. Während das Wasser auf ihren Körper prasselte, schärfte sie sich ein, dass es höchste Zeit war, mehr Produkte aus ihrem kürzlich erweiterten kosmetischen Arsenal anzuwenden als nur die Feuchtigkeitscremes.
Mit vom Duschen noch feuchtem und leicht nach dem billigsten sogenannten unparfümierten Shampoo der Apotheke duftenden Haar saß sie in ihrem Büro und wählte die Nummer des Auktionshauses, wo sie die Tischuhr abgeholt hatte. Sie hegte den Verdacht, dass das Unternehmen gewisse Vorschriften zu befolgen hatte, die nicht ohne Weiteres zuließen, den Vorbesitzer der Auktionsware zu nennen. Wie auch bei vielen anderen mehr oder weniger internetbasierten Unternehmen konnte sie in den Räumen, wo sie die Uhr gekauft hatte, niemanden erreichen, und auf dem Anrufbeantworter verwies man auf die Website. Ella war durchaus ein Freund des Schriftverkehrs, aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man im persönlichen Gespräch am schnellsten Auskunft auf unbequeme Fragen erhielt. Ihr fiel die anorektische junge Frau mit den vernarbten Handgelenken ein. Es wäre unmoralisch, diese schwächliche Person auszunutzen, um an Informationen zu gelangen, die sie vielleicht gar nicht herausgeben durfte, dachte Ella.
Dennoch saß sie eine Viertelstunde später in ihrem Wagen auf dem Weg zum Auktionshaus. Es ging schließlich um ihren nächtlichen Schlaf, verteidigte sie ihr Vorhaben innerlich.
Es war Viertel vor zwölf, und der Parkplatz vor dem Auktionshaus war frei. Durchs Fenster konnte sie die junge Frau hinter dem Tresen erkennen. Sie war gerade dabei, einem älteren Herren zu helfen, einen Gegenstand in eine schützende Schicht aus Luftpolsterfolie einzuwickeln, als Ella hereinkam. Die junge Frau schaute auf und nickte ihr zu. Der ältere Herr
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