Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Anspruch genommen, um mit Hilfe des Lebensrhythmus von Insekten den Verwesungszustand einer Leiche zeitlich einzuordnen. Für diese Fälle stand ein spezieller Entomologe auf der Kontaktliste der Behörde, aber soweit Ella wusste, hatten sie noch keinen Botaniker verpflichtet.
Obwohl Ella und Markus bereits seit der Jahrtausendwende in dem Haus wohnten, vermittelte ihr die Wohnung kein heimisches Gefühl. Im eisigen Wind überquerte sie den Parkplatz und schielte hinauf zur obersten Wohnung. Sie war dunkel. Das galt auch für die meisten anderen Wohnungen. Als sie im Treppenhaus einer jungen Frau mit rabenschwarzem Haar begegnete, fiel Ella auf, dass sie eigentlich überhaupt keinen Kontakt zu ihren Nachbarn hatte. Man grüßte einander zwar freundlich, aber über diese kurzen Begegnungen hinaus gab es keine näheren Berührungspunkte. Man konnte niemanden darum bitten, die Blumen zu gießen, wenn man wegfuhr. Man konnte bei keinem am späten Samstagabend um Kaffeepulver bitten, wenn es gerade ausgegangen war. In ihrer neuen Wohnung würde das anders werden, redete sie sich ein. Dort würde sie dafür sorgen, dass die Nachbarn wussten, dass sie jederzeit willkommen waren. Als sie den Gedanken gerade formulierte, fiel ihr ein, dass sie genau dasselbe vorgehabt hatte, als sie und Markus in den Neubau eingezogen waren.
Ella stellte die schwere Uhr auf dem Fußboden im Flur ab. Da sie nicht wollte, dass Markus es so auffassen würde, als möbliere sie bereits ihr neues Zuhause, beschloss sie, die Uhr ins Arbeitszimmer zu stellen. Obwohl das kleine Zimmer mit Bücherregalen, einem Schreibtisch und dem schönen, aber verschlissenen Ohrensessel bereits ziemlich vollgestellt war, vermittelte das Zimmer Ella eine innere Ruhe. Am liebsten saß sie eingekuschelt auf dem Sessel mit dem Samtbezug und las. Ihr fiel der vergoldete Rahmen ins Auge, der ohne das Spiegelglas an einer Wand lehnte und sie daran erinnerte, dass sie völlig vergessen hatte, Markus von dem Golfschläger zu erzählen. Kein Wunder, dass er ihn nicht gefunden hatte, dachte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Markus sich jemals in dem engen Büro aufgehalten hätte. Das Zimmer war in gewisser Weise sein Zugeständnis dafür gewesen, dass Ella sich darauf einließ, in einem modernen Haus zu wohnen. Wenigstens dieses eine Zimmer hatte sie in ihrem Stil einrichten können.
Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Diese Wohnung war bald nicht mehr ihr Zuhause. Markus war einfach nicht der richtige Mann für sie, dachte sie. Auch wenn ihr die gemeinsamen Jahre mit ihm keineswegs als vergeudete Zeit vorkamen, konnte sie nicht verstehen, warum es ihr so schwer gefallen war, den Entschluss zu fassen, ihn zu verlassen. Ihr kam Karin Boyes Gedicht über den zögerlichen Einzug des Frühlings in den Sinn. Alles Fremde und Ungewisse ließ den Menschen zögern. Sie beschloss, bereits in der nächsten Woche Kontakt zu einem Makler aufzunehmen, um ein neues Zuhause zu finden. Ein neues Leben wartete auf sie.
Ella setzte sich abrupt im Bett auf. Im Zimmer war es nachtschwarz. Während des Winterhalbjahres ließen sie die Jalousien nicht herunter, sodass man vom Bett aus über das unruhige schwarze Meer hinausblicken konnte. Ihr Puls raste. Sie musste sich bremsen, um nicht unmittelbar ins Arbeitszimmer zu stürmen. Ihr Traum war ebenso deutlich gewesen wie die Bilder der Erinnerung, die ihr kamen, als sie die Uhr zum ersten Mal im Auktionshaus gesehen hatte.
Sie war wieder ein kleines Mädchen und studierte fasziniert die Uhr oben auf der Kommode. Sie war ein Geschenk von Grete an Judit gewesen. Ella hatte einen Schlüssel entdeckt, der vor der Tischuhr lag, sowie ein Schlüsselloch im Zifferblatt. Wenn sie es nur schaffte, die Uhr etwas näher an die Kante heranzuziehen, würde sie den Schlüssel ausprobieren können und sehen, was sich im Inneren der Uhr verbarg, hatte sie gedacht. Sie stellte sich auf zwei große schwere Bücher, die sie aus dem Regal im Wohnzimmer gezogen hatte, und erreichte schließlich mit den Fingern eine Seite der Uhr. Vorsichtig zog sie das schwere Messingteil an die Kante. In dem Moment hörte sie Schritte vor dem Wohnzimmer. Sie fuhr herum und verlor das Gleichgewicht. Die Uhr hielt sie unterdessen fest, sodass sie mit dem kostbaren Stück zu Boden fiel. Trotz der Schmerzen im Rücken lag sie ganz still, in der Hoffnung, dass die Person, die sie vor der Tür hörte, den ohrenbetäubenden Krach nicht mitbekommen hatte. Doch dann
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