Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
zeigte sich eine erschrockene Judit in der Türöffnung. Anfänglich schaute sie lediglich auf den Haufen, den Ella, die Bücher und die Uhr auf dem Fußboden bildeten. Dann hob sie Ella hoch und begutachtete sie vom Scheitel bis zur Sohle. Als sie sich vergewissert hatte, dass ihre Tochter unverletzt war, warf sie einen Blick auf die Uhr, die mit dem Zifferblatt nach oben zeigte. Daneben lag ein bronzener Flügel, der beim Aufprall auf den Fußboden abgebrochen war. Judit stellte daraufhin die Uhr zu Ellas Erstaunen wieder an ihren Platz und steckte den Flügel in ihre Jackentasche.
»Das muss unser kleines Geheimnis bleiben«, hatte sie Ella zugeflüstert, bevor sie sie mit entschiedener Geste aus dem verbotenen Zimmer führte.
Ella konnte noch immer das Flüstern ihrer Mutter an ihrem Ohr hören. Mit nach wie vor erhöhtem Puls tastete sie sich mit vorsichtigen Schritten in Richtung Arbeitszimmer vor. Sie schaltete den kleinen Kronleuchter an der Decke an, dessen schwaches Licht von den vergoldeten Spiegeln reflektiert wurde. Dann hob sie die Tischuhr an und sank mit ihr auf dem Schoß in den Ohrensessel. Sie strich mit dem Finger über die Flügel der Putten. An einem Flügel des linken Engels spürte sie eine kleine Erhöhung. Sie knipste die Leselampe neben dem Sessel an und konnte die winzigen geschmolzenen Bronzeperlen erkennen, mit denen jemand den abgebrochenen Flügel wieder angefügt hatte.
Über eine Stunde saß sie mit der Uhr auf dem Schoß im Schein der Leselampe im Sessel. Die Gedanken drehten sich im Kreis. Wieder und wieder stellte sie sich die Frage, warum sie gerade einen Gegenstand in Händen hielt, der eigentlich durch den Brand zerstört worden sein musste. Ein Brand, bei dem ihr Vater ums Leben gekommen war.
Nachdem Ella aufgewacht war, konnte sie nicht mehr einschlafen und fühlte sich daraufhin während des gesamten Samstags mehr oder weniger komatös. Auch am Sonntag hatte sie Schwierigkeiten, in Gang zu kommen, denn die Gedanken an ihre nächtliche Entdeckung kehrten ständig wieder. Die einzig logische Erklärung, die ihr einfiel, war, dass sich die Uhr zum Zeitpunkt des Brandes in Reparatur befand, doch das erklärte nicht, warum sie jetzt, dreißig Jahre später, im Zuge einer Internetauktion verkauft wurde. Soweit sie wusste, hatte sich ihre Mutter noch nie leicht von Dingen getrennt. Ella erinnerte sich außerdem daran, dass sie sie gefragt hatte, ob man nach dem Brand etwas hätte retten können. Sie hatte als Antwort lediglich einen resignierten Seufzer bekommen. In materieller Hinsicht konnte sie sich nur an einen nennenswerten Verlust erinnern, eine Kette mit golden schimmernden Perlen, die vermutlich aber aus Kupfer oder ähnlichem Material gefertigt waren. Estrid zufolge hatte Ella diese Kette tagsüber immer getragen, sie aber offenbar nicht mitgenommen, als sie das Haus verließen, bevor das Feuer ausbrach. Bereits im Alter von sechs Jahren hatte Ella ein Schmuckkästchen besessen, das gut gefüllt und sogar eigens versichert war. Als erstes und einziges Enkelkind von Grete und Ernst war sie mit allen möglichen Geschenken geradezu überhäuft worden, vor allem mit Schmuck. Obwohl die meisten dieser Schmuckstücke aus echtem Gold oder Silber waren, hatte ihr die Kette aus Goldimitat am besten gefallen.
Als junger Teenager hatte sie Estrid immer aufs Neue darum gebeten, ihr die Geschichte mit der Kette zu erzählen. Die Geschichte stellte im Prinzip die einzige Erinnerung an ihren Vater dar. Ella hatte das Schmuckstück aus Perlen selbständig für ihn angefertigt. Dabei hatte sie aber offenbar nicht berücksichtigt, dass sein Halsumfang größer war als ihrer, woraufhin er es ihr zurückgab. Er hatte Estrid zufolge gemeint, dass er Ella schon immer das Schönste hatte schenken wollen, was er besaß, doch dass nichts, was er besaß, schön genug gewesen wäre. Jedenfalls nicht, bevor er ihre Kette bekommen hatte. Man merkte, dass Estrid Ellas Vater gemocht hatte. Sie war die Einzige in Ellas Umfeld, die seinen Namen hin und wieder erwähnte.
Zu ihren Großeltern väterlicherseits hatte Ella nach dem Brand keinen Kontakt mehr. Sie waren bestimmt auf der Beerdigung gewesen, doch weder daran noch an ihre eigene Trauer konnte sie sich erinnern. Es kam natürlich immer noch vor, dass sie ihren Vater vermisste, doch dann als Person, die sich wie sie selbst nicht vollständig an die Konventionen der Familie anpassen wollte. Sie war sich nicht sicher, ob es sich tatsächlich so
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