Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
Sonne versteckte sich hinter einem Schleier, und es würde allem Anschein nach ein schwüler, drückender Tag werden. Die Kommissarin hatte sich nach ihrem kurzen Telefonat mit Frank Hellmer eine dunkle Jeans angezogen, außerdem ein schlichtes weißes Top, das ihre weiblichen Rundungen betonte. Sie schlüpfte dann in eine dünne graue Sportjacke, nicht gerade die Kleidung, die sie für einen Bürotag im Präsidium gewählt hätte, aber für die bevorstehende Tatortbegehung angemessen.
Hellmer hatte in kurzen Sätzen die Fakten geschildert: Ein Anruf war eingegangen, irgendwo in der Leitstelle, der Name Bertram war gefallen und dazu die Adressangabe Falkensteiner Straße, zwischen Kronberg und Königstein. Aufgrund der bestehenden Fahndung waren sofort zwei Streifenwagen losgeschickt worden, außerdem verständigte man das K 11. Die erste Streife meldete, dass sich an der angegebenen Hausnummer in Königstein eine Gewerbeimmobilie befände, ein Fitnessstudio, ein Friseur, eine Praxis und so weiter. Um hier eine umfassende Durchsuchung einzuleiten, brauchte man ein halbes Dutzend weiterer Kollegen. Dann jedoch meldete die zweite Streife, dass es eine weitere Adresse gäbe, ein verlassenes Haus, frei stehend, auf einem Hügel direkt an der Bundesstraße 455. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte es die Adresse Falkensteiner Straße 1 getragen, die Hausnummer trotzte noch immer auf einem rostenden Metallschild vor dem Zufahrtstor. Die Beamten hatten nicht lange suchen müssen, da hatten sie den Leichnam auch schon gefunden.
In der trüben Morgendämmerung dürfte das eine wahrhaft gespenstische Kulisse gewesen sein, dachte Julia Durant, als sie ihren Wagen zwischen Hellmers Porsche und einen Streifenwagen rangierte. Von der breiten, asphaltierten Zufahrt aus betrachtet, lag das Haus auf einer Anhöhe vor ihr, es wirkte, als blickte es drohend aus sie hinab. Gras, Löwenzahn und Disteln wucherten aus zahllosen Brüchen in der Bodendecke, die weiße Fassade war von Graffiti überzogen, die in dunkler Holzverkleidung eingelassenen Fenster waren teilweise zerschlagen. Schwer atmend näherte die Kommissarin sich dem Eingang, einer doppelten Stahltür mit ebenfalls weißer Lackierung, die in erstaunlich guter Verfassung schien.
»Hier herum!« Sie zuckte zusammen, realisierte erst dann, dass es Hellmers Stimme war, die sie rief. Winkend stapfte er durch kniehohes Gras um die Ecke.
»Guten Morgen, Frank«, lächelte sie. »Ganz schön gruselig, wenn ich das mal so nebenbei anmerken darf.«
»Dann wart mal ab, was da drinnen noch kommt!«
Sie durchquerten einen Raum, zugemüllt mit leeren Kanistern, rostigen Metallfässern und einem alten Lattenrost, bei dem jede einzelne Latte zerbrochen war. Zahllose Getränkedosen, meist Energydrinks, Cola und Bier, sowie Glasscherben und ein zerbrochenes Waschbecken lagen herum, dazwischen wucherte Unkraut, und durch die Löcher im flach abgeschrägten Dach hingen Stücke von Dachpappe hinab, auf denen Moos wucherte. Vom einstigen Boden war nicht mehr viel zu sehen. Sie traten geduckt durch einen Türrahmen. Die Tür, die sich einst dort befunden hatte, lag einige Meter weiter, zwei kopfgroße, von Splittern umrandete Löcher im Holz. Auf den Wänden waren unzählige Graffiti, hauptsächlich farbenfrohe, unleserliche Schriftzüge, hier und da das umkreiste A für »Anarchie«, Totenköpfe, die Zahl 666, außerdem die obligatorischen Hakenkreuze, mindestens jedes vierte falsch herum. Offenbar ein Eldorado für Vandalen, wie Julia im Vorbeigehen feststellte.
»Und jetzt geht’s abwärts«, kommentierte Hellmer die in Sicht kommende Treppe, ein breiter Abgang aus dunkelgrauem Beton, in dessen Mitte pro Stufe drei braune Kacheln verlegt waren. Links daneben liefen Metallschienen hinab, wie man sie von öffentlichen Treppen kennt, die rollstuhlgerecht ausgestattet sind. Julia vermied es, das weiße durchrostende Metallgeländer zu berühren, konzentrierte sich auf jeden einzelnen ihrer Schritte, und bald hatten sie das Untergeschoss erreicht. Die Räume, an denen sie vorbeikamen, befanden sich in einem ähnlichen Zustand wie oben, Müll, zerstörtes Inventar wie etwa die orangefarbene Badezimmerkeramik oder ein paar herausgerissene Heizkörper. Trotz aufkommender Beklemmung war Julia erleichtert, dass es in den meisten Räumen Fenster gab, einer der Vorteile, wenn man ein Untergeschoss am Hang baut.
Aus dem letzten Raum des mit braunen Holzpaneelen vertäfelten Ganges vernahm die Kommissarin
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