Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
Wache. Er hatte den östlichen Ausgang gewählt, der unter dem Vordach des C&A-Gebäudes lag. Ein Zebrastreifen, dessen weiße Balken derart abgenutzt waren, dass man ihn fast nicht mehr als solchen wahrnahm, führte Alexander auf die andere Straßenseite der Zeil, Frankfurts berühmter Einkaufsmeile. Danach wandte er sich nach rechts und überquerte die Ampel der Kurt-Schumacher-Straße. Als wichtigste Verbindung zwischen dem Frankfurter Nordend und Sachsenhausen auf der anderen Seite des Mains war die Straße sechsspurig ausgebaut, davon je zwei Spuren für den normalen Verkehr und in der Mitte, abgeteilt durch lange, betonierte Fahrsteige, zwei Spuren für den öffentlichen Nahverkehr. Neben Bussen verkehrten an diesem wichtigen Knotenpunkt auch Straßenbahnen, deren Schienen im Asphalt der Busspur eingelassen waren.
Eine große schwarze Infotafel verriet in orange leuchtender Laufschrift, dass die Buslinie 30, Fahrtrichtung Bad Vilbel, in drei Minuten abfahren würde. Alexander gesellte sich zu den Wartenden neben dem gläsernen Unterstand, dessen wellenförmiges Plexiglasdach durch Vogelkot und Witterung fleckig und stumpf war. Ganz bewusst versuchte er, an öffentlichen Plätzen die Berührung von Geländern, Wänden und Türgriffen zu vermeiden. Auch der enge Kontakt zu fremden Menschen war ihm zuwider. Man konnte ja nie wissen, mit welchen Bakterien und Krankheitserregern man es zu tun bekam. Die Welt, insbesondere Frankfurt, war ein Schmelztiegel des Ekelhaften.
Zitternd und mit metallenem Quietschen kam der türkisfarbene Gelenkbus zu stehen. Auf seiner Seite prangte unübersehbar ein großflächiger Werbeaufkleber der Frankfurter Nahverkehrsgesellschaft traffiQ, ein Display mit großen, gelben Lichtpunkten wies schon von weitem die Liniennummer und das Fahrtziel aus. Alexander wählte den mittleren Einstieg, unweit der grauen Ziehharmonika, des Faltenbalgs, der die beiden Bushälften miteinander verband. Erleichtert stellte er fest, dass die meisten Personen auf dem Fahrsteig auf eine andere Linie oder die Straßenbahn zu warten schienen, denn der Bus blieb angenehm leer. Einer der Vorteile, wenn man Vorlesungen erst zum zweiten Block, also ab 10.15 Uhr, belegte. Um diese Zeit musste man kaum noch gestresste, hustende Pendler oder lärmende, ungepflegte Schüler ertragen.
Er wählte einen engen Doppelsitzplatz in der Nähe der Tür mit Blick entgegen der Fahrtrichtung, weil hier die Wahrscheinlichkeit am geringsten war, einen Sitznachbarn zu bekommen. Normalerweise wäre Alexander stehen geblieben, doch heute hatte er etwas Bestimmtes vor. Als der Bus sich mit einem Ruck und einer kräftigen Vibration in Bewegung setzte, zog er nach einem kurzen, prüfenden Blick in die Umgebung eine »Bild« aus seinem Rucksack. Niemand beachtete ihn. Er hatte die Zeitung nach dem Verlassen der U2 an einem der kleinen Stände in der U-Bahn-Station gekauft und konnte es kaum erwarten, die Titelseite genauer zu lesen. Der Geruch von Druckerschwärze drang Alexander Bertram in die Nase, als er das dünne Papier entfaltete und las:
TODESKAMPF IM DROGENRAUSCH!
EINE GANZE MEUTE FIEL ÜBER SIE HER!
Ein unscharfes Foto, vermutlich aus ihrem Studentenausweis, zeigte Jennifer M. (21) mit schmalem Lächeln und nachdenklichen Augen. Mit großen Augen überflog Alexander die wenigen fett gedruckten Sätze unter dem Aufmacher, in denen über die Umstände des Todes der kanadischen Studentin spekuliert wurde. Die Phantasien des Reporters reichten von Mehrfachvergewaltigung bis hin zu satanischem Ritualmord. Auf Seite drei war eine verwackelte Innenaufnahme des Wohnungsflurs abgebildet, daneben ein Bild der Außenfassade. Der Untertitel lautete: Das Horrorhaus, in dem Jennifer um ihr Leben flehte.
Sie hat nicht gefleht, dachte Alexander Bertram. Wie sollte sie auch? Der medizinische Alkohol, den er dem Whiskey und Wodka beigemischt hatte, und das nicht gestreckte Kokain, dessen Reinheitsgrad die auf der Straße üblichen Mischungen bei weitem übertraf, hatten gute Dienste geleistet. Getrunken hatte das Mädchen von ganz alleine, darum musste man heutzutage ja niemanden mehr bitten, und selbst zur ersten Nase Koks, das erste Koks überhaupt in ihrem Leben, hatte Alexander sie nicht beknien müssen. Auch hier hatte er durch gezieltes Einsetzen seiner charmanten Überzeugungskraft der Verwendung von Rohypnol vorbeugen können.
Rasch überflog er die Überschriften der anderen Artikel. Über den Tod von Marita war noch keine
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