Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
Meldung zu finden, das hatte er auch nicht erwartet. Neun Minuten nach Fahrtbeginn hielt der Bus an Alexanders Zielhaltestelle, die von einer Frauenstimme über Lautsprecher angesagt wurde: Nibelungenplatz/FH. Die Verspätung betrug zwei Minuten, dies jedoch verriet ihm nicht die Ansage, sondern ein prüfender Blick auf seine Uhr. Das Casio-Digitaldisplay zeigte die exakte, regelmäßig per Funk mit der Atomuhr abgeglichene Uhrzeit von 09:48:13. Präzision ist das halbe Leben, dachte Alexander, und der Verlauf des gestrigen Abends bestätigte seine Devise. Niemals würde ein Bulle auch nur im Traum daran denken, ihn mit dem Hurenmord in Verbindung zu bringen. Dieser selbstgefällige Schönling schon gleich gar nicht. Zufrieden warf er sich den Rucksack über die rechte Schulter und verließ den Bus. Mit flinken Schritten überquerte er die vier Spuren der Friedberger Landstraße, auf der wie zu jeder Tageszeit reger Verkehr herrschte. Obwohl der Name der wichtigsten Nord-Süd-Achse des Stadtverkehrs sich seit Verlassen der Konstabler Wache zweimal geändert hatte, von Kurt-Schumacher-Straße in Konrad-Adenauer-Straße und schließlich in Friedberger Landstraße, handelte es sich doch noch um dieselbe Trasse. Ständige Bau- und Ausbesserungsarbeiten, besonders in der Nähe des Nibelungenplatzes, bildeten ein permanentes Ärgernis für Anwohner und Pendler.
All dies interessierte Alexander Bertram jedoch nicht. Zielstrebig eilte er über den breiten Gehsteig, vorbei an der bunt beklebten Litfaßsäule und den roten Sandsteinsäulen des alten Eingangsbereichs der Fachhochschule. Er passierte das gläserne Wartehäuschen der Buslinie 32, unter dessen gewölbtem Dach eine Handvoll Halbstarker standen, rauchten, laut lachten und auf den Boden spuckten. Angeekelt verzog Alexander die Mundwinkel und dachte verächtlich: Ihr werdet hier wohl nie studieren. Als er den letzten Ausläufer des alten Gebäudes schließlich umrundete und den weitläufigen Hof des Komplexes betrat, atmete er durch. Seit seinem ersten Besuch vor drei Jahren hatte sich hier einiges verändert. Das neue Verwaltungsgebäude, ein klobiger Betonwürfel mit einer doppelt verglasten Front, markierte das neue Herzstück der Anlage und bildete einen nicht zu überbietenden Kontrast zu dem alten schiefergedeckten Wohnhaus, das den eigentlichen Mittelpunkt des Campus darstellte. Noch im Herbst 2005 hatte dort, wo Alexander nun stand, eine Verbindungsstraße an dem alten Haus vorbeigeführt und das Gelände geteilt. Mittlerweile war von der Kleiststraße nichts mehr übrig als die sechzig Meter, die von der nördlichen Seite des Campus her eine Zufahrtsmöglichkeit boten. Blaue und weiße Fahnen flatterten sanft in der leichten Morgenbrise, gerade so, dass man die großen Lettern FH FFM erkennen konnte.
Alexander Bertram kam gerne hierher. Das Studium im Fachbereich Informatik und Ingenieurwissenschaften gab ihm nicht nur die Möglichkeit, sich von Menschen wie jenen an der Bushaltestelle abzuheben, es verschaffte ihm auch Zugang zu modernstem Material und Know-how. Hier, völlig unverdächtig und unüberwacht, konnte er Dinge erledigen, die er am heimischen Netzwerk niemals getan hätte. Alexander hatte sich ein ganzes Semester Zeit gelassen, um die Strukturen der hochschuleigenen Netzwerkzugriffspunkte, Sicherheitsvorkehrungen und Server zu studieren. Während viele seiner Kommilitonen große Sprüche klopften, dass sie von der FH aus »auf schwarzer Welle surfen« oder sich irgendwann in gesicherte Bank- oder Regierungsdatenbanken einhacken würden, hatte er stets geschwiegen. Es gehörte wohl zum Gebaren der Erstsemester, dass man hier sein vermeintliches Hackerwissen und die Leistungen der eigenen PCs miteinander verglich. Schwanzvergleich für Nerds nannte Carlo, Alexanders einziger engerer Bekannter, das immer. Und jedes Jahr, wenn die neuen Studenten sich einschrieben, hörte man dieselben Geschichten.
Getreu seiner Maxime, unauffällig zu agieren, hatte Alexander sich im ersten Semester zurückgehalten, kaum Bekanntschaften geknüpft und stattdessen seine Kommilitonen analysiert und den Campus in Augenschein genommen. Als einige Monate später der nächste Zyklus der Neueinschreibungen begann, hatte er bereits eine Schwachstelle in den Terminals der Benutzerverwaltung aufgespürt und nutzte den hohen Andrang unwissender Studienanfänger, um sich unbemerkt Anmeldeinformationen zu beschaffen.
Das erstbeste Opfer war der zweiunddreißigjährige Andreas
Weitere Kostenlose Bücher