Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
alles, resümierte die Kommissarin, als der Summer ertönte und sie die Tür aufdrückte. Den sportlichen Ehrgeiz gegen den unangenehmen, spontan auftretenden Erschöpfungszustand abwägend, hatte Julia sich zunächst der Aufzugtür genähert. Die Vorstellung jedoch, alleine in einer engen, stickigen Kabine zu stehen, die mit Sicherheit nur halb so geräumig und dafür fünfmal so alt war wie die auf dem Kommissariat, ließ sie zur Treppe umschwenken. Trotz ihrer gelegentlichen Rückfälle in puncto Rauchen hatte Julias Fitness nicht wesentlich eingebüßt. Im Gegenteil: Die kilometerlangen Strandläufe in der befreienden Seeluft hatten sich sehr förderlich ausgewirkt. Wenn mir unterwegs die Puste ausgeht, kann ich immer noch fahren, dachte sie, und schon kurz darauf sah sie Alina oben an der Tür warten.
»Julia«, lächelte die gutaussehende Frau mit weit geöffneten Armen. »Schön, dich zu sehen! Komm rein.«
Sie umarmten sich herzlich, und für einen kurzen Moment erinnerte sich die Kommissarin an ihre erste Begegnung, die ebenfalls in dieser Wohnung stattgefunden hatte. Knapp zweieinhalb Jahre waren seitdem vergangen, in denen es Phasen gegeben hatte, in denen sich die beiden Frauen überhaupt nicht gesehen hatten, und dann eben diese Momente, diese eine Nacht … Julia Durant verjagte diesen Gedanken schnell wieder und löste sich aus der Umarmung. Das erträgliche Maß an körperlicher Nähe war ganz unvermittelt erreicht. Sie überspielte die Unsicherheit mit einem breiten Lächeln.
»Hallo, Alina. Ich hoffe, mein Anruf vorhin hat dich nicht überrumpelt.«
»Na, ich hätte mich schon beschwert, wenn es nicht gepasst hätte. Jetzt komm doch erst mal rein.« Auffordernd winkte Alina Cornelius ihren Gast an sich vorbei, über den langen Läufer hinweg, der sich quer durch den Flur zog, in Richtung Wohnzimmer.
»Balkon oder Couch?«, hörte Julia Alinas Stimme hinter sich. »Such dir was aus.« Instinktiv wollte sie hinaus auf den Balkon eilen, um gar nicht erst eine Atmosphäre aufkommen lassen, wie sie sie noch immer vom Klischee der Psychotherapie erwartete: Die Patientin legt sich aufs Sofa, der Arzt sitzt am Kopfende über ihr und säuselt ihr von dort wie ein Marionettenspieler ein, dass sie ohne ihn völlig machtlos sei und von nun an er die richtigen Fäden ziehe. Dabei waren die Sitzungen bei Madame Sutter vollkommen anders abgelaufen.
»Ach, bleiben wir im Wohnzimmer«, entschied Julia schnell. Obwohl die Feinripp-Fraktion ganze drei Stockwerke tiefer saß und ihre Aufmerksamkeit gewiss wieder voll und ganz den gegrillten Steaks gewidmet war, wollte die Kommissarin ihr Anliegen nun doch nicht unter freiem Himmel besprechen.
Zu ihrer Überraschung fand Julia Durant das Wohnzimmer verändert vor. Während es auf den ersten Blick beinahe wie neu eingerichtet wirkte, entpuppten sich die Änderungen als relativ geringfügig, aber mit großer Wirkung. Noch immer dominierte eine gemütliche Sitzgarnitur den Raum, welche aber nicht mehr weinrot bezogen war, sondern eine neue Polsterung in cappuccinofarbenem Braun erhalten hatte. Passend dazu waren die Wände in Pastellweiß angelegt. Das bis zur Decke reichende Bücherregal war fest eingebaut und daher unverändert geblieben, ebenso gab es noch die Vitrine mit dem gesammelten Kleinkram. Julia überlegte, ob die Menge an Nippes vielleicht sogar zugenommen hatte, war sich aber nicht sicher. Die markante Veränderung des Raumes war, dass der neue Couchtisch nun aus dunklem Holz war und rechteckig, Kolonialstil eben, etwas gänzlich anderes als der vorherige runde Marmortisch. Die beiden Gemälde von Victor Kandinsky gab es ebenfalls nicht mehr, kein Verlust, wie Julia fand. Mochte es auch ungerechtfertigt sein, aber Kandinsky gab es in jeder zweiten Arztpraxis. Alles in allem waren die zahlreichen Nuancen der Farbe Rot aus Alinas Wohnzimmer gewichen und durch einen Kontrast aus Weiß und Braun ersetzt.
»Schön hast du es hier«, kommentierte die Kommissarin nach einer Weile. »Gefällt mir gut und ist irgendwie heller als vorher, oder?«
»Weiß nicht.« Alina zuckte mit den Schultern. »Vielleicht liegt’s auch nur am Licht momentan. Aber so wollte ich es schon länger haben, und ich dachte mir, warum warten?«
Ihre Praxis in Höchst lief ziemlich gut, das wusste Julia, und sie hatte bereits selbst die Erfahrung gemacht, dass Veränderungen des eigenen Umfelds dabei helfen konnten, mit bestimmten Lebensabschnitten abzuschließen.
»Recht hast
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