Todesmelodie
das Bier, das Chad auf den Berg geschleppt hatte, schien in dieser Beziehung Wunder zu wirken. Fred hatte davon allein ebensoviel getrunken wie alle andern zusammen, und er war dazu übergegangen, Sharon zwischen den einzelnen Liedern zu Leibe zu rücken. Ann bedauerte nur, daß sie nicht die Gelegenheit haben würde, ihn von der Klippe zu stoßen, bevor sie selbst sprang. Sie verstand immer noch nicht, was Sharon an diesem Typen fand.
Ann warf einen Blick auf ihre Uhr: zehn nach zehn. Nur noch ein paar Minuten, dann konnte sie zu ihrem Spaziergang aufbrechen. Der Coroner hatte Jerrys Todeszeit für halb elf eingetragen, und es schien ihr richtig, für ihren scheinbaren Tod die gleiche Zeit zu wählen. Sie war sich sicher, daß niemand diesen Zusammenhang herstellen würde.
»Kennt ihr ›If I fell in love with you‹?« fragte Chad eifrig. Er hatte beim Singen sein Möglichstes versucht aber seine Stimme klang so dünn und schwach wie die einer Eule mit Halsentzündung. Trotzdem wirkte er sehr glücklich, und Ann empfand es als schwierig, ihn anzusehen und nicht traurig zu werden, weil sie dieses strahlende Lächeln durch ihr Handeln auslöschen würde.
»Ich kenne die Melodie«, erwiderte Sharon und schlug die ersten Noten an. »Weißt du den Text, Fred?«
»Was meinst du damit, ob ich den Text kenne? Ich hab’ ihn geschrieben! Lennon und McCartney sind doch alte Kumpel von mir!«
»Ha, ha«, meinte Sharon kichernd – auch sie hatte ein paar Dosen Bier geleert.
Ann trank nur selten Alkohol, denn er ließ sie die Kontrolle über sich verlieren, und das haßte sie.
»Ich kenne jedes Wort. Ich hab’ es ganz auswendig gelernt«, sagte Chad.
»Dann spiele ich die Melodie, und du singst dazu«, schlug Sharon vor.
»Bitte nicht«, meinte Fred seufzend und stieß dabei versehentlich mit dem Fuß gegen einen Ast, dessen Spitze tief im Feuer steckte, so daß ein wahrer Funkenregen aufstob. »Ich bin noch dabei, mein Abendessen zu verdauen.«
»Das war nicht gerade nett«, sagte Sharon und hieb ihm spielerisch ihren Ellenbogen in die Seite. »Los, entschuldige dich bei Chad!«
»Kann ich damit nicht warten, bis er mit dem Singen fertig ist?« fragte Fred und brach in lautes Gelächter aus – es hatte ein Scherz sein sollen.
Doch Chad war hart im Nehmen. »Ich singe oft unter der Dusche«, erklärte er, »da kann mich wenigstens niemand hören.« Er lauschte einen Moment in die Dunkelheit hinaus. »Ich fürchte, heute nacht ist der Fluß nicht laut genug, um mich vor einer Blamage zu bewahren!«
Sie konnten den Fluß schwach rauschen hören, doch es klang viel weiter entfernt als es war. Ann glaubte sogar die Kälte im Plätschern des Wassers auf den harten Steinen wahrzunehmen, und sie fühlte sie schon in ihrem Blut.
Ihre Uhr tickte unaufhaltsam weiter, ihr Herz pochte rasch. Sie hatte lange sehr viel in sich verschlossen, und es würde sicher weh tun, es alles auf einmal hinauszulassen!
Sharon wird es wissen, spätestens wenn ich schreie…
Aber sie würde nur die Hälfte erahnen – denn Ann würde sich nicht zwingen müssen zu schreien. Der Schrei würde echt sein, denn ihr wahnsinniger Plan hatte ihre wahnsinnige Angst außer acht gelassen.
»Warum hast du denn den ganzen Text auswendig gelernt?« fragte Paul jetzt seinen Bruder.
»Damit ich das Lied auf eurer Hochzeit singen kann«, erwiderte Chad.
»Das Feuer ist sehr hell«, meinte Ann plötzlich, und der Klang ihrer Worte kam für sie selbst überraschend, denn sie hatte jetzt noch gar nicht handeln wollen.
»Stimmt«, gab Sharon ihr recht, »es ist einfach toll!«
Ann lehnte den Kopf zurück und schaute in den Himmel. »Aber die Helligkeit macht es schwierig, die Milchstraße zu erkennen!«
Sharon legte die Gitarre zur Seite, »Ann, warum machen wir den Spaziergang nicht einfach jetzt schon?«
Es war mehr als perfekt wie Ann fand. Anscheinend war es nicht an ihr, den Zeitpunkt zu bestimmen, zumindest nicht auf die Minute. Aber der Coroner konnte sich bei Jerry ebensogut geirrt haben. Ann blickte Sharon durch die Flammen hindurch an und sagte lächelnd:
»Einverstanden!«
Sie stand auf, und Sharon tat es ihr gleich.
»Wollt ihr Mädchen unter euch sein?« erkundigte sich Chad.
Ann nickte, und Sharon bejahte ebenfalls.
»Denkt daran, wo ihr seid«, warnte sie Chad, der nun ebenfalls aufstand. »Und geht nicht zu weit, egal in welche Richtung!«
Ann blickte Paul an, bevor sie losging, aber sie konnte nicht in seine Augen sehen wie beim
Weitere Kostenlose Bücher