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Todesmelodie

Todesmelodie

Titel: Todesmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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erstenmal, als sie sich begegnet waren. Vielleicht lag es am Lichtschein des Feuers. Sie drückte seine Schulter, und er nickte schwach.
    »Paß auf dich auf, Ann!«
    »Das werd’ ich tun, Paul!«
    Es war Sharon, die vorschlug, zum Rand der Klippe zu gehen. »Vielleicht sehen wir ja eine Sternschnuppe«, meinte sie hoffnungsvoll, als sie sich vom Feuer abwandten und in die Nacht hinausliefen.
    Der Boden war uneben, voller verstreut liegender Felsblöcke, und das Gelände stieg und fiel im Wechsel um etwa anderthalb Meter an und ab. Sie mußten bei jedem Schritt aufpassen, und spröde rote Steinchen knirschten unter den Sohlen ihrer Turnschuhe.
    Sharon hatte ihre Taschenlampe mitgebracht, während Ann ihre eigene absichtlich zurückgelassen hatte. Vom Lagerfeuer bis zu Anns ›Absprungschanze‹ waren es nur ungefähr dreihundert Meter, und Ann, die einen Schritt vor Sharon ging, führte sie behutsam bis zum gewünschten Punkt. Der Wind frischte plötzlich auf, als schlüge ganz in ihrer Nähe ein riesiger prähistorischer Vogel mit den Schwingen.
    Die Klippe fiel auf einmal jäh ab, was für Anns Plan sehr vorteilhaft war. Nah am Abgrund wuchsen ein paar knorrige und verkümmerte Büsche, und ein anderer stand genau an der Kante. An diesem hätte Ann das Ende ihres Seils angebunden und so gut versteckt, daß sie kaum befürchten mußte, Sharon würde es entdecken. Trotz seines gefährdeten Standorts hatte der Busch nämlich dichtes Blattwerk entwickelt.
    Sharon leuchtete mit ihrer Taschenlampe nach rechts und links: Bis auf das Buschwerk war die Gegend absolut kahl, es gab nirgends auch nur einen einzigen Baum. Dann richtete sie den Lichtstrahl nach unten, doch er reichte nicht bis zum Fluß hinunter.
    Ann bat sie, die Lampe auszumachen, und Sharon tat es. Jetzt war alles stockdunkel, denn in den Bergen konnte man ohne Mondlicht die Hand vor Augen nicht sehen. Dafür aber die Sterne: Sharon erkannte die Milchstraße und zeigte sie Ann. »Ob es im Himmel wohl Musik gibt?« überlegte sie. »Wenn ja, dann haben sie da oben eine Wahnsinnsband zusammen«, sagte Ann und dachte an das Lied über die vielen Rockmusiker, die zu jung gestorben waren.
    »Wahrscheinlich haben sie schon jede Menge Keyboard-Spieler«, meinte Sharon nachdenklich.
    »Für Genies ist überall noch Platz«, erklärte Ann.
    Sharon wandte sich ihr zu und fragte: »Meinst du wirklich, daß ich genial bin?«
    »Ich weiß es sogar!«
    Sharon lachte leise. »Ich wünschte, ich könnte dir glauben!«
    »Aber das tust du doch! Das ist eins der Dinge, die wir gemeinsam haben: Wir wissen beide, daß wir alles können, wenn’s drauf ankommt.«
    »Was hast du eigentlich mit deinem Leben vor, Ann?«
    Das war eine einfache Frage, und Sharon hatte sie beiläufig gestellt. Aber die Wirkung auf Ann war erstaunlich: Sie fühlte sich wie elektrisiert und spürte plötzlich die Notwendigkeit, so schnell wie möglich zu handeln. Wie spät es wohl war? Sie hielt ihre Armbanduhr mit den Leuchtziffern nah an die Augen und las die Zeit ab: achtzehn Minuten nach zehn, nicht halb elf; aber ohne irgendeinen Beweis fühlte Ann – nein, sie wußte, daß der Coroner sich geirrt hatte, als er Jerrys Todeszeit eintrug; Jerry war vor halb elf gestorben!
    Plötzlich schien es ihr, als stünde er neben ihr, und sie hörte seine Schmerzensschreie und das krampfhafte Würgen, als sein eigenes Blut in seine Lungen strömte.
    Der Wind schien in seine Klage einzustimmen, als er jetzt Anns schönes Haar gegen ihre Wangen drückte: Die Berührung kam ihr vor wie die eines Geisterwesens, das an die Tür ihrer Seele klopfte.
    »Mir fällt nichts ein, zu dem ich wirklich Lust hab’«, beantwortete sie jetzt nüchtern Sharons Frage.
    »Wirklich gar nichts?« erkundigte sich Sharon ungläubig.
    »Überhaupt nichts«, bestätigte Ann.
    »Das ist doch nicht wahr!«
    »Doch, es stimmt aber!« Ann starrte auf den Fluß hinunter, den sie nicht sehen konnte. »Es wird kalt.«
    »Wir sollten zurückgehen«, schlug Sharon vor, in deren Stimme Besorgnis mitschwang.
    »Du hast recht.« Ann wandte ihr den Rücken zu, eine rein symbolische Geste in dieser vollkommenen Dunkelheit. Von nun an würden sie füreinander nur noch Schemen sein, so wollte es Ann. Und in diesem Moment erkannte sie auch, daß es noch einen Grund gab, aus dem sie diesen waghalsigen Plan in die Tat umsetzen würde: Sie wollte vor sich selbst fliehen, denn Sharon war nicht die einzige, die ihr verhaßt war!
    »Laß mir noch einen

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