Todesmelodie
sein.
Chad hatte das Feuerholz aufgeschichtet, aus einer ganzen Ladung Zweige, die er auf dem letzten Stück des Marsches gesammelt hatte, während die anderen vor Erschöpfung schon Mühe gehabt hatten, überhaupt weiterzulaufen.
Chad hatte auch ihren Lagerplatz ausgesucht oder glaubte zumindest, er habe ihn ausgewählt. Es war derselbe, den Ann und er schon einmal benutzt hatten, als er ihr die Grundbegriffe der Kletterei beigebracht hatte. Sie hatte ihn mit vorsichtigen Hinweisen dorthin gelenkt.
Jetzt spürte man eine kalte Bö, die aus der Schlucht, etwa aus der Richtung des Sees heraufkam – doch sie saßen geschützt am Fuß einer sechs Meter hohen Felswand. Trotzdem plagte Ann die Kälte, und sie hätte sich nichts sehnlicher gewünscht als sich neben dem Feuer in eine Decke zu kuscheln und zu schlafen.
Sie hatte in der vergangenen Nacht keine Ruhe gefunden, weil sie ständig über ihren Plan hatte nachdenken müssen, und sie war nach dem anstrengenden Tagesmarsch heute ziemlich erschöpft.
Außerdem hatte sie heute nacht noch einen langen Weg vor sich, bevor sie sich ausruhen konnte. Sie mußte zurück zu ihrem Wagen, den sie nicht weit vom See hinter einer Baumgruppe versteckt hatte, die am Ende eines einsamen Feldweges stand.
Aber auch der Gedanke an die vor ihr liegenden Strapazen konnte sie nicht von ihrem Plan abbringen – nichts auf der Welt vermochte das. Die Erinnerung an diesen Abend im August vor einem Jahr war ihr noch zu lebhaft im Gedächtnis: die roten Blutspritzer und die weißen Flecken von Gehirnmasse – und Jerrys weit geöffnete Augen, die in hilflosem Kummer zu ihr hinaufstarrten und sie zu fragen schienen, was passiert war und warum.
Warum, Ann? Warum, Jerry?
Dann hatte sie den Zettel gesehen, aber auch der enthielt keine Antwort. Nichts konnte erklären, warum ein sechzehnjähriger Junge an einem Tag voller Leben und am nächsten schon tot sein konnte.
Gott hatte ziemlichen Pfusch gemacht, als er den Menschen die Fähigkeit gab, andere menschliche Wesen zu lieben – und auch sonst hatte er reichlich Unheil gestiftet, fand Ann.
Sie hatte die Einzelheiten ihres Plans auf dem letzten Stück des Wegs mit Paul noch einmal durchgesprochen, als sie beide ein wenig hinter den andern zurückgeblieben waren. Nur Fred hatte sich noch hinter ihnen befunden, ganz offensichtlich vollkommen erschöpft.
Ann hatte kein gutes Gefühl dabei gehabt, ihn in ihrem Rücken zu wissen, denn sie traute ihm nicht über den Weg. Er schwieg die ganze Zeit über, aber so erschöpft konnte er nun auch wieder nicht sein! Was mochte er nur von Sharon wollen? Ann war erleichtert, daß sie sich nicht mit Fred herumschlagen mußte, und sie war fast froh, daß Sharon demnächst größere Probleme als ihn haben würde…
Paul war in einer ganz abscheulichen Stimmung gewesen und hatte an allem etwas auszusetzen gefunden, was schiefgehen konnte. Aber immerhin hatte er nicht versucht, ihr den Sprung auszureden, und dafür war sie ihm dankbar. Sie brauchte seine Unterstützung, und sie brauchte seine Liebe.
Sie hatte ihm gesagt, daß sie ihn liebte, kurz bevor sie oben angekommen waren.
Er war stehengeblieben und hatte auf den Weg zurückgeblickt, über den sie gekommen waren. In diesem Moment war Fred so weit hinter ihnen gewesen, daß sie ihn nicht mehr sehen konnten.
»Warum liebst du mich?« hatte Paul sie gefragt.
»Weil ich dich brauche – und du mich brauchst… Ich weiß es nicht.«
»Gab es je eine Zeit, in der du das Gefühl hattest, daß du Sharon brauchtest?«
Die Ernsthaftigkeit dieser Frage hatte sie überrascht, und sie sah keinen Sinn darin, ihn zu belügen. »Ja; als ich sie das erstemal spielen gehört habe.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Jerry hat ihre Art zu spielen auch sehr gemocht.«
»Bist du wirklich sicher, daß du sie nicht mehr brauchst?«
Sie hatte genickt und daraufhin hatte er sie geküßt und nichts mehr gesagt.
Jetzt fingen sie an zu singen – Fred holte seine Gitarre heraus, und Sharon spielte darauf. Auch Fred hatte versuchsweise ein paar Akkorde angeschlagen, aber sie klangen so falsch und langweilig wie alles, was er spielte. Unter Sharons gewandten Händen jedoch wurde das Instrument lebendig.
Sharon hatte so schöne Hände! Obwohl sie eher klein war, waren ihre Hände so lang und elegant geformt wie die der besten Pianisten.
Die Freunde vertrieben sich inzwischen die Zeit mit alten Beatles-Songs, und sogar Fred bekam endlich den Mund auf –
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