Todesmelodie
Chad unglücklich. »Sei vorsichtig, Paul!«
Ein paar Minuten verstrichen. Sharon empfand gleich ein ganzes Bündel von Gefühlen: Schmerz, ihre eigene Nutzlosigkeit, Ohnmacht… Doch der Schockzustand, in dem sie sich befunden hatte, begann langsam von der kalten, harten Wirklichkeit vertrieben zu werden. Paul würde nichts entdecken, und sie würden keine Wahl haben, als zum Grund der Schlucht zu gehen. Dort würden sie Anns zerschmetterten Körper finden und sich überlegen müssen, wie sie ihn zu Anns Geländewagen transportieren sollten.
Wenn man es sich genau überlegte, hatte es gar keinen Sinn, dort hinunterzugehen. Aber sie mußten es trotzdem tun. Sharon schloß die Augen und begann zu beten. Aber sie betete nicht darum, daß Ann noch lebte – sie glaubte einfach nicht, daß Gott sich mit einer so unmöglichen Bitte überhaupt befassen würde –, nein, sie betete darum, daß Ann sofort und ohne Schmerzen gestorben war.
»Kannst du jetzt was sehen?« rief Chad schließlich, als nicht mehr viel Seil übrig war.
»Nein«, kam ganz schwach die Antwort.
»Dann ziehen wir dich wieder hoch«, meinte Chad.
»Nein«, rief Paul, und es klang, als sei er kilometerweit entfernt.
»Was macht er bloß?« fragte Chad ungeduldig. »Er hat nicht mal die Lampe eingeschaltet!«
»Gibt ihm noch etwas Zeit«, sagte Fred. »Schließlich ist es seine Freundin, die gestorben ist!«
»Sag nicht so was«, fuhr Chad ihn an. »Wir wissen doch nicht mal, ob sie wirklich abgestürzt ist!«
»Schon gut«, antwortete Fred, der offensichtlich ganz anders dachte.
»Mach doch deine Lampe an!« rief Chad nach unten.
»Ich hab’ sie fallen lassen«, antwortete Paul.
»Er hat sie fallen lassen!« sagte Chad nervös. »Das alles ist scheußlich und schrecklich… Wir hätten nicht hierherkommen sollen! Ich hätte gar nicht… Paul? Ich ziehe dich jetzt hoch!«
»Ja, einverstanden«, schrie Paul zurück und überraschte sie alle mit seinem Entschluß.
»Was ist los?« erkundigte sich Fred.
»Er will raufkommen«, sagte Chad aufgeregt, trat zurück und suchte mit den Füßen festen Halt. Er bewies eine erstaunliche Kraft, als er jetzt seinen Bruder wieder in Sicherheit zog – in weniger als einer Minute war Paul bei ihnen. Nachdem er ein Stück vom Rand weggekrochen war, ließ er sich fallen und blieb schwer atmend liegen, den Kopf gesenkt und offensichtlich völlig erschöpft.
Chad hockte sich neben ihn. »Und?«
»Nichts«, erwiderte Paul. »Da war nichts.« Er hob den Kopf und starrte Sharon an, und ein seltsamer Ausdruck lag dabei auf seinem Gesicht. »Was hat Ann geschrien, bevor sie von der Klippe fiel?«
Warum starrt er mich so an?
»Ich weiß nicht«, sagte Sharon.
»›Tu’s nicht!‹ Sie hat geschrien ›Tu’s nicht!‹« meinte Fred und starrte Sharon nun ebenfalls an.
»Was redet ihr denn da?« fragte sie schluchzend.
»Würdet ihr bitte aufhören, kostbare Zeit zu verschwenden?« sagte Chad und rollte das Seil auf. Seine kleine Taschenlampe war jetzt ihre einzige Hilfe in der Dunkelheit. »Wir müssen uns auf den Weg nach unten machen!«
Paul ließ Sharon nicht aus den Augen, und jetzt begriff sie: Er dachte tatsächlich, daß sie Ann hinuntergestoßen hätte, und Fred glaubte das auch!
Sie sind verrückt geworden!
Aber Sharon konnte in Pauls Blick kein Zeichen von Verrücktheit oder Wut entdecken, und das erstaunte sie. »Gut, laßt uns gehen«, meinte Paul schließlich.
Der Weg nach unten schien ewig zu dauern, aber ihre Uhren zeigten ihnen, daß das Gegenteil der Fall war: Sie erreichten den Fuß der Klippe innerhalb von nur vierzig Minuten.
Chads Lampe flackerte nur noch, aber sie brauchten sie auch nicht, um die Stelle zu finden, wo Ann hätte sein müssen. Auf Pauls Anordnung hin hatten sie ihr Lagerfeuer brennen lassen, und obwohl die Kante der Felswand es verdeckte, beleuchtete das Feuer eine aufsteigende Rauchsäule, die ihnen als Orientierungshilfe diente.
Doch da war keine Leiche; da war nur der Fluß, dunkel, kalt und reißend.
»Vielleicht ist sie ja doch nicht abgestürzt«, sagte Chad zum drittenmal.
»Hör doch auf damit«, fuhr Fred ihn an. »Du hast sie doch genauso schreien hören wie wir!« Er deutete auf den Fluß. »Die Strömung muß ihre Leiche flußabwärts gespült haben. Was meinst du, Paul? Paul?«
Paul hatte die Taschenlampe genommen und untersuchte die Felsen am Ufer. Die andern standen teilweise geschützt durch die Felswand in ihrem Rücken und bekamen
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